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Günter Grass wird von SPIEGEL-Autor Georg Diez haltlos als „Zombie“ abgekanzelt – Diez‘ „Debattenkritik“ ist letztlich auch nur „völlig unnötiger Krawall“

Sonntag, 08. April 2012

„Grass hat grundsätzlich recht.“
Mohssen Massarrat, Exil-Iraner und Politikprofessor an der Uni Osnabrück, in einem Kommentar in der Financial Times Deutschland, 12. April 2012

„Ich stehe auf der Seite von Grass. Er hat etwas Vernünftiges gesagt. Es ist völlig unnötiger politischer Krawall, dass Deutsche und Israelis darum wetteiferten, wer Grass mehr beschimpfen kann, und wer extremere Ausdrücke für ihn findet.“
Alfred Grosser, Publizist und Kind jüdischer Eltern, im SZ-Interview

Es ist antisemitisch darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf.“
Uri Avnery, israelischer Autor, nimmt Günter Grass in Schutz; Artikel „Kritik-Verbot an Israel ist antisemitisch“ auf sueddeutsche.de

„Das Erschießliche in Deutschland hat sich freilich seit Heines Zeiten gewandelt – und wohl auch die Exekutionskommandos: Eine Konstellation aus enthusiasmierten Israelsolidarisierern ‚antideutscher‘ (letztlich neokonservativer) Provenienz, einer stets abrufbereiten ‚jüdischen Intelligenz‘ (professoraler, publizistischer und offiziell-institutioneller Couleur), einer unter dem geschichtlich konnotierten Tabu keuchenden politischen Klasse, einer in diesem Punkt in der Tat ‚gleichgeschalteten‘ deutschen Medienwelt und einer aktivistisch-durchideologisierten israelischen Botschaft bildet stets eine durch den Eklat gestählte Front, sobald ein Ausscherender etwas, und sei‘s noch so kümmerlich, an ihrer Selbstgewissheit kratzt.“
Moshe Zuckermann auf Hintergrund.de in seinem Beitrag „Eine gut orchestrierte Hysterie“ über die Kritker von Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“

Dass Israel über 250 Atomsprengköpfe besitze, dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sei sowie keine Kontrollen zulasse und offen das Für und Wider eines „Präventivkriegs“ gegen Iran diskutiere, „sind Tatsachen, die Günter Grass auf seine Weise ins rechte Licht gerückt hat“.
Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; tagesspiegel.de

SPIEGEL 15/2012, S. 117; Foto: Jakob Carlsen

Man könnte fast meinen, in Deutschlands Massenmedien findet eine Art „Grass-Bashing“ statt – nach dem Motto: Wer kann verbal am übelsten gegen Günter Grass knüppeln? Marcel Reich-Ranicki z.B. beschimpft Grass‘ Gedicht als „ekelhaft“, wie SPIEGEL Online berichtet, und SPIEGEL-Kolumnist Georg Diez versteigt sich in der aktuellen Print-Ausgabe gar dazu, Grass als „Zombie“ zu verunglimpfen (siehe auch links).

Man muss Grass‘ Zeilen nicht durchweg zustimmen, doch derartige Schmähungen sind wirklich nicht fundiert. Oder wie es der israelische Autor Uri Avnery formuliert (zu lesen auf sueddeutsche.de): „Es ist völlig unnötiger politischer Krawall, dass Deutsche und Israelis darum wetteiferten, wer Grass mehr beschimpfen kann, und wer extremere Ausdrücke für ihn findet.“

Dass auch die so genannte Debattenkritik „Zombies“ von SPIEGEL-Kolumnist Georg Diez letztlich nur „völlig unnötiger politischer Krawall“ ist, zeigt sich nicht nur, wenn man sich die Definition von dem von Diez verwendeten Begriff „Zombie“ einmal vergegenwärtigt. Auch verirrt sich Diez in seinem Stück in seinen Aussagen bzw. Anwürfen und lässt darin die intellektuelle Tiefe vermissen. Da kann man kaum glauben, dass der 1969 in München geborene Kolumnist tatsächlich Philosophie studiert hat.

Diez tut genau das, was er Grass vorhält: Er vereinfacht auf unsinnige Weise
So behauptet Diez, Grass gehöre zu denjenigen, die meinen, die Deutschen würden sich als Opfer sehen und daher die Schuld den „eigentlichen Opfern“, sprich den Juden, zuschieben. Das geht aber nicht nur nicht aus Grass‘ Zeilen hervor, auch ist dies eine bloße Behauptung, der meines Erachtens die Grundlage fehlt und die Diez wohlgemerkt auch nicht belegt.

Auch ist es falsch, um nicht zu sagen perfide, wenn Diez – Bezug nehmend auf Henryk M. Broder, den „notorischen Produzenten heißer Luft“, wie die Titanic formulierte – schreibt, Grass würde meinen, der Iran und Palästinenser würden sich „zu Recht“ gegen Israel wehren, weil „die Gründung Israels die eigentiche Aggression ist“. Perfide deshalb, weil er damit – Bezug nehmend auf „Blasebalg“ Broder – einen Antisemitismus-Vorwurf verbindet.

Später, im vorletzten Absatz, rudert Diez zwar wieder zurück, indem er schreibt: „Ich glaube nicht, dass Grass Antisemit ist.“ Doch dieses „Glaubensbekenntnis“ von Diez ist nicht nur schwach bzw. unglaubwürdig, weil er es im darauf folgenden Satz praktisch gleich wieder zurücknimmt, indem er (fälschlicherweise) einfach behauptet, das Grass’sche Denken „kann in der Konsequenz zu Antisemitismus führen“. Und eben deshalb ist das Diez’sche „Glaubensbekenntnis“ auch ein Zeugnis für die Schwäche seiner „Debattenkritik“, ist sie doch überfüllt mit faktisch nicht unterfütterten Vermutungen bzw. Unterstellungen.

Dies zeigt sich auch daran, dass das, was Diez behauptet (dass Grass meinen würde, der Iran und Palästinenser würden sich „zu Recht“ gegen Israel wehren, weil „die Gründung Israels die eigentiche Aggression ist“) überhaupt nicht Thema von Grass‘ Gedicht ist. Vielmehr geht es Grass ja darum, vor einem Krieg gegen den Iran zu warnen – ausgelöst von Israel nicht als den „eigentlichen Aggressor“, sondern schlicht als einen Aggressor.

Genauer müsste man freilich nicht von „Israel“ sprechen, sondern in erster Linie von der „derzeitigen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu“, wie Grass auch im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung präzisiert. Eine Präzision, die für denjenigen, der Grass kennt und dessen Verse vorurteilsfrei liest, eigentlich gar nicht nötig ist – und die es noch abstruser erscheinen lässt, Grass auch nur andeutungsweise in die Antisemitusmus-Ecke zu platzieren.

In diesem Zsh. wird auch sichtbar, dass Diez in seinem Kommentar genau das tut, was er Grass bzw. gleich dem ganzen „deutschen Denken“ vorhält: zu vereinfachen. Diez vereinfacht nämlich, indem er meint, es sei letztlich nicht legitim, Israel als einen Aggressor darzustellen. Ein solches Schwarz-Weiß-Denken kann der Realität natürlich nicht gerecht werden.

Zuckermann: „Das Herzstück des gesamten Problems ist der Territorialkonflikt von Israelis und Palästinensern – doch Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht“
Wie sehr dies der Fall ist, skizziert Moshe Zuckermann in seinem Hintergrund.de-Beitrag „Eine gut orchestrierte Hysterie“, in dem er auf die Kritik an Grass‘ Versen dezidiert eingeht. Darin heißt es:

„[Der] Angelpunkt des gesamten Problems der Existenzbedrohung Israels ist nicht die von den in periodischen Gewaltausbrüchen verwendeten Waffen ausgehende Gefahr, sondern der Nahostkonflikt mit seinem Herzstück, dem historischen Territorialkonflikt von Israelis und Palästinensern. Wer nicht begreifen will, dass die Bedrohung Israels durch die Saddam Husseins und die Ahmadinedschads der Region in erster Linie durch den (noch) ungelösten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erst eigentlich möglich wird, muss sich vorhalten lassen, dass sein Gerede über die Existenzbedrohung Israels, gar über eine Israel drohende „zweite Shoah“ manipulativ-ideologischen Charakters ist. Aber genau darin übt sich die israelische Politik schon seit Jahrzehnten: Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht, denn dieser ist ohne Abzug aus den besetzten Gebieten nicht zu haben; es betreibt ganz gezielt und intensiv die Besiedlung palästinensischen Landes, unterjocht dabei die Bewohner und bedient sich perfidester Ideologisierung dieses Grundumstands, indem es seine eigene Nichtbereitschaft zum Frieden auf die von ihm unterdrückten und geschundenen Palästinenser projiziert.“

Und Georg Diez gehört offenbar zu denjenigen, von denen Zuckermann sagt, sie hätten dies nicht begriffen und müssten sich daher vorhalten lassen, dass ihr Gerede über die Existenzbedrohung Israels „manipulativ-ideologischen Charakters ist“. Statt dessen versucht Diez auf Krampf, dem Leser zu erklären, wie es psychologisch um Grass bestellt ist. Doch er überzeugt nicht, da er, wie gesagt, nur mutmaßt, ohne Belege vorbringen zu können. Dabei fehlt ihm auch das feine Gespür eines Psychologen. Vielmehr holt er immer wieder die Unterstellungs-Kanone raus, etwa indem er haltlos behauptet, Grass wolle sich mit seiner Kritik an Israel „selbst erlösen“, und dies seit dem zweiten Weltkrieg.

Nicht weniger verhebt er sich mit dem Satz: „Das Problem ist, dass Grass eine Art von Vereinfachung vorführt, wie sie im deutschen Denken verwurzelt ist und auch von Teilen der Linken in den siebziger Jahren praktiziert wurde – was dann in der Konsequenz zu Antisemitismus führen kann“.

Denn nicht nur unterstellt er hier Grass letztlich, wie erwähnt, auf haltlose(!) Weise, dass dessen Denke in Antisemitismus münden könne. Auch verfällt Diez hier in eine billige Kritik an so genannten „Linken“, wie man sie sonst v.a. von rechtskonservativen „Brüllaffen“ vernimmt. Und nicht zuletzt lässt Diez – vollauf damit beschäftigt, als polternder Psychologe von Grass aufzutreten – das zentral Wichtige außer Acht: die Kapitalismuskritik, die etwa der erwähnte Moshe Zuckermann in seinem Hintergrund.de-Beitrag benennt und völlig zu Recht für so notwendig erachtet. Denn letztlich, so Zuckermann, seien es ja nicht „die Deutschen“ oder irgendeine sonstige Nationalität, sondern „[ist es die] Waffenindustrie (an der Israel übrigens selbst massiv beteiligt ist), die im kapitalistischen System auch vor… [einer] Profitmache [in Form von Lieferungen an diktatorische Länder wie den Irak unter Saddam Hussein] keinen Halt macht“.

Debattenbeiträge auf Hintergrund.de legen dar: Was Grass ausgesprochen hat, ist Nichts, was in Israel selbst nicht schon hundertfach gesagt und erörtert worden wäre
Wie sehr Diez mit seinem Debattenbeitrag „Zombies“ losgebrüllt hat, ohne dabei etwas Sinnhaftes von sich zu geben, zeigen auch die Aufsätze von sechs Intellektuellen – von dem bereits erwähnten Moshe Zuckermann sowie von Noam Chomsky, Domenico Losurdo, Rolf Verleger, Ekkehart Krippendorff und Norman Paech -, die sich auf Hintergrund.de mit Kommentaren zur Grass-Debatte zu Wort gemeldet haben. Dass die von ihnen geäußerten Ansichten in den etablierten Massenmedien praktisch keinen Widerhall finden, bestätigt übrigens nur Grass‘ Aussage von der „Gleichschaltung der Medien“.

Moshe Zuckermann, der Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv lehrt, etwa schreibt:

„Was hat Günter Grass gesagt, das die in Deutschland ausgebrochene Hysterie, wenn schon nicht zu begründen, so zumindest zu erklären vermöchte? Die Erwartungen können sogleich aufs Normalmaß des Diskutierbaren heruntergeschraubt werden: Nichts, was in Israel selbst nicht schon hundertfach gesagt und erörtert worden wäre. Nichts, was man im Hinblick auf Fakten bzw. aufs begründbar Mögliche lapidar infrage stellen könnte…

… Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht, denn dieser ist ohne Abzug aus den besetzten Gebieten nicht zu haben; es betreibt ganz gezielt und intensiv die Besiedlung palästinensischen Landes, unterjocht dabei die Bewohner und bedient sich perfidester Ideologisierung dieses Grundumstands, indem es seine eigene Nichtbereitschaft zum Frieden auf die von ihm unterdrückten und geschundenen Palästinenser projiziert…

… Was also hat ‚die Deutschen‘ bzw. die hegemoniale Sphäre der deutschen Öffentlichkeit an Grassens Gedicht so aufgewühlt? Die Antwort darauf liegt nicht im Inhalt des Poems (auch nicht in der Tatsache, dass Grass sich dieses Genre zum Medium seiner Aussage gewählt hat), sondern schier in der Tatsache, dass er einen Tabubruch begangen hat, namentlich ausgesprochen hat, was nach vorherrschender ‚deutscher‘ Norm unausgesprochen bleiben muss. Grass kann sich dabei noch so sehr auf eine von Goethe über Heine bis Brecht laufende Tradition des politischen Gedichts berufen – die hilft ihm nichts: Schon Heine wusste, dass er von seinem Exilland Frankreich nicht nach Deutschland zurückkehren sollte, weil er ‚Erschießliches‘ geschrieben hatte…“

Prof. Dr. Rolf Verleger, Autor des Buches „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht“ (2010) und Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, meint u.a.:

„… Wenn man den israelischen Rechtsnationalisten und Grass‘ Kritikern zuhört, könnte man meinen, die Bösen seien immer die anderen. Ist es aber nicht vielmehr unsere Aufgabe, unseren eigenen Anteil zu erkennen und zu ändern?“

Lesen Sie hier alle sechs Beiträge auf Hintergrund.de.

PS: Während FTD.de darüber berichtet, dass Marcel Reich-Ranicki das Gedicht von Günther Grass als „ekelhaft“ bezeichnet, ergibt die Umfrage auf FTD.de, dass mehr als 80 Prozent die Israel-Thesen von Grass für „diskutabel“ oder gar „richtig“ halten (siehe links).

Interessant auch der Beitrag „Bravo Günter Grass!“ auf dem Blog Die Meinungsfreiheit.