Debatte über Großprojekte: SPIEGEL würzt üble Schmähungen gegenüber direktdemokratischen Elementen mit Unwissenheit und Populismus

  05. November 2010, von Oliver W.

In seinem Beitrag „Debatte über Großprojekte: Zu viel Volk schadet Deutschland“ würzt SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Kaden (von 1994 bis 2003 war er Chefredakteur des manager magazins) üble Schmähungen gegenüber direktdemokratischen Elementen mit Unwissenheit und Populismus. Es ist traurig mitanzusehen, wie so ein wichtiges Medium wie der SPIEGEL, das sich „Sturmgeschütz der Demokratie“ nennt, praktisch zu einer Art Plattform für Wirtschaftspopulismus a’la Carte geworden ist. Wohlgemerkt: Die zwei Billionen Euro Schulden hat Deutschland auch ohne direkte Demokratie hinbekommen, nicht nur dies scheint Herr Kaden zu übersehen.

Die zentralen Thesen von SPIEGEL-Redakteur Kaden werden zu großen Teilen von der Literatur zurückgewiesen
Wenn Herr Kaden sich jetzt hinstellt und von exorbitanter Ausgabensteigerung durch Volksentscheide spricht, ist dass nicht nur falsch, sondern schlicht empörend. Studien (s.u.) haben gezeigt, dass in Ländern bzw. Gliedebenen (Bundesländer, Kantone, US-Staaten) die Ausgabendisziplin in der Regel höher ist, als in rein repräsentativ-demokratisch-verfassten Systemen. Hätte Herr Kaden die wissenschaftliche Literatur zur direkten Demokratie gelesen, dann wüsste er, dass seine zentralen Thesen zu großen Teilen von der Literatur zurückgewiesen werden:

These 1:  Direkte Demokratie ist nicht fähig, komplex zu handeln
Dies wird z.B. widerlegt von: Jung, Otmar. Direkte Demokratie in Deutschland. Sieben häufig vorgebrachte Gegenargumente, von denen man sich verabschieden sollte. In: Vorgänge Heft 2/2010 S. 100-111, siehe auch: Habermann, Gerd/ Schaal, Diana. Pro und Contra direkte Demokratie – 22 Argumente für skeptische Zeitgenossen. S. 431-446 In: Heußner, Hermann K./Jung, Otmar. Mehr direkte Demokratie wagen. Verlag Olzog. München 2009)

These 2: Direkte Demokratie ist die „Prämie der Demagogen“ (Theodor Heuss)
Wird z.B. widerlegt von Manfred G. Schmidt. Kap. 3.4. Direkte Demokratie. S. 355-375 In: ders. Demokratietheorie. Opladen 2000; Jung, Otmar In: Vorgänge, ebenda; Habermann/Schaal, ebenda.

These 3: Direkte Demokratie würde zu einer exorbitanten Ausgabesteigerung führen
Wird z.B. widerlegt von Moser, Julia/Obinger, Herbert. Die Schlaraffenland auf Erden? Auswirkungen von Volksentscheiden auf die Sozialpolitik. S. 303-361 In: Freitag, M./Wagschal, Uwe. Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im Internationalen Vergleich. Berlin 2007, ähnlich auch Schmidt, Manfred G. ebenda.

These 4: Direkte Demokratie verhindert Reformen des Sozialstaates
Hier hat Herr Kaden rein zufällig evtl. Recht, zumindest die Ergebnisse von Moser/Obinger, ebenda, zum „Silver Age“ von 1976-2007 lassen diesen Schluss einer Strukturkonservierung zu.

Informationen zum Autor Wolfgang Kaden finden sie hier:

# Manager Magazin
# SPIEGEL
# Kress.de
# www.braunschweig.ihk.de

 

4 Kommentare zu “Debatte über Großprojekte: SPIEGEL würzt üble Schmähungen gegenüber direktdemokratischen Elementen mit Unwissenheit und Populismus”

  1. Ronnie Grob sagt:

    Wir haben hier mal den Gotthardtunnel (halbdirekte Demokratie) mit Stuttgart21 (repräsentative Demokratie) verglichen:

    http://www.direktedemokratie.com/2010/10/19/stuttgart21-vs-neat/

    Passt vielleicht dazu.

  2. 18 000 Demonstranten gegen Stuttgart 21 - Seite 121 - DIGITAL FERNSEHEN - Forum sagt:

    […] so dass es auch keinen Sinn ergibt, weiter dar

  3. Jens Loewe sagt:

    Leserbrief an Spiegel-Online v. 6.11.2010 „Zu viel Volk schadet Deutschland“

    Sehr geehrter Herr Kaden,
    Deutschland als Selbstzweck ? Das Volk besser abschaffen?

    Demokratie ist ein Prinzip, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und damit der Souverän das am höchsten legitimierte Organ, die höchste Instanz ist.

    Alles andere hingegen sind mögliche Formen des Regierens und Entscheidens, also Parlamentarismus, Volksentscheide, Räte, Repräsentanten etc.

    Entscheidend ist für eine Demokratie, dass der Souverän den Generalschlüssel in Händen hält, also festlegen kann, wen er mit welchen Aufgaben betraut, von wem er sich auf welche Weise vertreten lassen will oder ob er etwas per Volksentscheid entscheiden will.

    Wenn der Souverän einen Volksentscheid wünscht, ist es völlig irrelevant, ob Sie Herr Kaden, den Bürger für überfordert- oder die Wirtschaft gefährdet sehen, weil die Machtfrage eine prinzipielle ist.

    Es gibt letztlich nur zwei Möglichkeiten: Demokratie, oder eine der vielfältigen Formen von Willkürherrschaft, also Despoten, Diktatoren, Militärs, Macht-Eliten etc.

    Letzteren ist gemeinsam, dass sie sich ÜBER das Volk stellen, ihre Legitimation sich selbst erteilen und diese ggf. gewaltsam durchsetzen. (Wobei es durchaus sein kann, dass im System-Wettbewerb eine Willkürherrschaft Konzerninteressen besser vertritt.)

    Herr Kaden, mich würde nun interessieren, wer nach Ihrer Meinung das Sagen haben sollte. Welche Eliten würden Sie als höchste Instanz gerne sehen und wer sollte die letzte Entscheidung darüber treffen ?

    Aber zu Ihrer Befürchtung, das Volk könne möglicherweise die Wirtschaft ruinieren. Mir sind keine Beispiele bekannt, wo die Bürger durch direkte Entscheidung sich selbst ökonomisch gefährdet- oder ernsthaft geschadet haben. Wo bleiben Ihre Beispiele ?!

    Mit sind hingegen viele Beispiele bekannt, wo die politischen Eliten dem Bürger die Entscheidungsmöglichkeit versperren, aber weit über die Landesgrenzen hinaus enormen ökonomischen Schaden anrichten. Von der Umwelt einmal ganz zu schweigen.

    Z.B. durch Cross Border Leasing, Steuerumgehung durch Scheingeschäfte, mit Milliardenschaden für die Allgemeinheit und Vorteilen für wenige Eliten. Da, wo Bürger direkt entschieden, hatten sie in allen Fällen CBL-Verträge abgelehnt!

    Oder aus der Finanzkrise: Große Banken haben u.a. Hypothekenkredite mehrfach verbrieft, also gefälscht und „Pakete“ mit solchen „Produkten“ weiterverkauft, besonders gerne auch an Banken wie Hypo Real Estate, IKB und Deutsche Landesbanken. Im Falle der Landesbanken demzufolge unter der Verantwortung der Politik, die uns wiederum erklärt, es sei ein „Tsunami“ gewesen, man habe „toxische Papiere“ im Keller und die öffentliche Hand müsse nun mit hunderten Milliarden den Banken „helfen“. Ein Schaden von hunderten Milliarden, den der Bürger zahlen soll, ihm aber die Entscheidungskompetenz abgesprochen wird ?! http://www.wirtschaftsfacts.de/?p=9494
    http://www.zeit.de/2010/43/Immobilien-Investoren-Banken

    Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die Super-Reichen und Machteliten den Volksentscheid fürchten, wie der Teufel das Weihwasser, siehe auch Stuttgart 21, während die Entscheidung durch das Volk eher das Allgemeinwohl im Blick hat, besonders im Bereich der Ökonomie, wie es sich am Bürgerhaushalt von Porto Alegre und anderen Beispielen ablesen lässt.

    Von daher finde ich, wenn ich das so offen sagen darf, Ihren Artikel schlecht recherchiert und Ihre gedanklichen Schlussfolgerungen von einer miserablen, wenn nicht von einer sehr bedenklichen Qualität, weil Sie unter dem Vorwand des Ökonomischen an der Demokratie zündeln.

    Mit freundlichen Grüssen aus Stuttgart, Jens Loewe

  4. cruiser sagt:

    >> Es ist traurig mitanzusehen, wie so ein wichtiges Medium wie der SPIEGEL, das sich “Sturmgeschütz der Demokratie” nennt, praktisch zu einer Art Plattform für Wirtschaftspopulismus a’la Carte geworden ist <<

    Das trifft es leider auf den Punkt. Man kann nur hoffen, dass zukünftig andere Informationsquellen, wie auch dieser Blog, an Oberwasser gewinnen.

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