- SPIEGELblog - http://www.spiegelblog.net -

Der SPIEGEL: geistloser Fortschrittsgläubigkeit anheim gefallen

„Es ist etwas Neues in der Geschichte, daß die Erkenntnis mehr sein will als ein Mittel.“
Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, § 123

[1]
SPIEGEL, 16/2009. S. 32-36

Was verbindet man mit den 1950er Jahren? Vor allem den blinden Fortschrittswahn, der sich in dem Irrglauben manifestierte, dass neue technologische Errungenschaften unsere Probleme lösen werden. In den 70er und auch noch 80er Jahren schien die Fortschrittstrunkenheit zum Teil überwunden. Doch eh man sich versah, war die Fortschrittsgläubigkeit wieder da – und hat auch beim SPIEGEL Einzug erhalten.

Der SPIEGEL und das Gesäusel von der Sicherung des Wohlstands
So bringt das Blatt in seiner Ausgabe 16/2009 den Artikel „Klug aus der Krise?“ (leider nicht online verfügbar, siehe Ausriss). Gleich fünf Autoren machen sich darin daran, der Welt zu erklären, Deutschland müsse dringendst noch viele mehr „gezielt in Bildung und Forschung investieren“ (Steuergelder wohlgemerkt), denn nur so ließen sich „die Grundlagen des Wohlstands“ sichern. Doch der Beitrag strotzt nur so vor Allgemeinplätzen und aberwitzigen Thesen.

Zunächst wird der Begriff „Wohlstand“ dem Leser plakativ hingeworfen, also ohne ihn genau zu definieren. Das aber wäre dringend geboten gewesen. Denn was, bitte schön, heißt Wohlstand? Wohlstand kann ja eigentlich nur heißen, dass dieser die Menschen glücklicher macht, ihnen ein Leben ohne Zukunftsangst beschert und dass er vor allem auch gerecht verteilt ist. Doch in den vergangenen Jahrzehnten ist Deutschland für das Gros der Menschen immer stressiger und sozial ungerechter geworden – obwohl auch dieses Land immer stärker technologisch aufgerüstet wurde.

Geisteswissenschaften zählen für den SPIEGEL offenbar nicht
Auch ist auffällig, dass der Artikel, in dem ja propagiert wird, es müssten deutlich mehr Steuergelder in „Bildung und Forschung“ investiert werden, geisteswissenschaftliche Bildungsbereiche wie Politikwissenschaften, Sozialpädagogik, Psychologie, Theologie, Journalismus links liegen lässt. Offenbar zählen für den SPIEGEL die Geisteswissenschaften gar nicht, wenn es um die Sicherung unseres „Wohlstands“ geht. Stattdessen lässt sich das Magazin dick und breit über Industrien wie die Pharmabranche oder die Gentechnologie aus. So darf Horst Lindhofer, Chef von Trion Pharma, zum Besten geben, dass sein Krebswirkstoff, der kurz vor der Markteinführung stünde, „großes Potential für alle Phasen von Krebs [birgt], sogar für eine Impfung der Erkrankten“. Solche wohlfeilen Versprechungen kennt man zur Genüge, und es darf auch hier bezweifelt werden, dass sie eingehalten werden können.

Kurzum, hier wird nichts anderes als billige Werbung für eine Pharmafirma betrieben. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu abstrus, wenn der SPIEGEL in einem viereinhalbseitigen Artikel von der Politik verlangt, für derlei Projekte müssten Steuergelder locker gemacht werden. Zumal die Pharmabranche ohenhin schon mit unzähligen Milliarden an Steuergeldern gesegnet ist (was letztlich nicht wirklich verwundern kann, wenn man bedenkt, wie eng die Pharmabranche und Politik verbandelt sind). Und wenn dieser Krebswirkstoff wirklich, wie propagiert, ein so gigantisches Heilungspotenzial bietet – wieso findet sich dann dafür kein privater Investor?

Annette Schavan gehört in die Schmähecke und nicht „ins Rampenlicht“, wie der SPIEGEL meint
Auch ist sich der SPIEGEL nicht zu schade, dem Elitedenken an Unis genau wie Physik-, Chemie- und Biologieolympiaden für Schüler das Wort zu reden. Da verwundert es auch nicht mehr, dass für die Autoren Forschungsministerin Annette Schavan „ins Rampenlicht“ gehört. Grund: „Schavan hat fast alles besser gemacht als ihre Vorgänger“. Vor allem habe „sie das Budget des Forschungsministeriums von 7,9 Milliarden auf 10,2 Milliarden Euro gesteigert“ und „Schwerpunkte wie Sicherheits- und Demenzforschung gesetzt“.

Klingt ja dolle, doch in Wahrheit bringt mehr nicht automatisch mehr. Es wird also völlig vergessen zu fragen: Was genau heißt „mehr“? Mehr Gewinn für bestimmte Branchen – oder mehr Gerechtigkeit und Glückseligkeit für alle in der Gesellschaft? Fakt ist, dass die Gesellschaft auch trotz der Aufstockung des Budgets des Forschungsministeriums nicht gerechter und stressfreier geworden ist, im Gegenteil. Und auch beim Demenzproblem ist man einer Lösung nicht näher gekommen. Könnte es etwa sein, dass da etwas an der Forschungsrichtung nicht stimmt? Ein Fragenkomplex, dem sich die Verfasser des Artikels geistig offenbar gar nicht gewidmet haben.

Hätten sie dies getan, so hätten sie, bevor sie in die Tasten hauen, mal Bilanz gezogen und genau geprüft, wem die Ver(sch)wendung der Abermilliarden an Steuergeldern eigentlich wirklich nützt. Der Gesellschaft als Ganzes, der die Steuergelder ja eigentlich gehören, sind die Ausgaben aber komischerweise nicht in entsprechendem Maße zugute gekommen, bestimmten Industrien umso mehr. Und dann wäre den Autoren auch aufgefallen, dass die nach ihrer Auffassung ach so „nette“ Schavan nicht ins Rampenlicht gehört, sondern in die Schmähecke, hat sie sich doch knallhart zur Schirmherrin einer Organisation der Pharmalobby aufgeschwungen, wie die Frankfurter Rundschau [2] erst kürzlich berichtete.

Und dann versteigt sich das Nachrichtenmagazin auch noch zu dem Satz: „Wie wäre es, die Finanzwelt so an die Kandare zu nehmen wie bisher die Forscher, dafür aber die Forscher in die Freiheit zu entlassen“. Dieser Satz verrät, welch Geistes Kind die Autoren sind: dass sie nämlich dem naiven Glauben anhängen, alles, was aus der Tehchnologie- und Medizinforschung kommt, ist gut. Doch tatsächlich ist die Technologie- und Biomedizinforschung nicht minder korrumpiert und genau so wenig an gesellschaftlicher Gerechtigkeit interessiert wie die Finanzbranche.

Den Autoren ist offenbar entgangen, dass unsere Wissenschaftskultur beherrscht wird von Geheimnistuerei, von der Gewährung von Privilegien, fehlender Rechenschaftspflicht und vom eklatanten Mangel an Kontrollen sowie von der Aussicht für Unternehmen und Forscher auf exorbitante Gewinne – was alles dazu beiträgt, dass dem Betrug Tür und Tor geöffnet und somit dem im 17. Jahrhundert eingeführten wissenschaftlichen Beweisprinzip der Garaus gemacht wird, wie etwa der Wissenschafthistoriker Horace Judson in seinem Werk „The Great Betrayal. Fraud in Science“ ausführt. In einer Rezension im Lancet heißt es dazu: „Judson malt ein düsteres Bild von der heutigen Forschung [besonders der Biomedizin], doch wir werden wohl noch weit dunklere Tage erleben, wenn Beweisführung und Profit unzertrennbar vermixt werden.“