- SPIEGELblog - http://www.spiegelblog.net -

Der SPIEGEL: Schoßhund im Elfenbeinturm?

(Mit Dank an Mosez G. für einen wichtigen Hinweis)

Investigativer Wissenschaftsjournalismus als Kontrollinstanz des Forschungsbetriebes – als „Wachhund im Elfenbeinturm“ – spielt in der Fachliteratur und Praxis bisher nur eine geringe Rolle, wie auch eine Untersuchung der Universität Dortmund [1] zeigt. Dies ist äußerst prekär, denn das Wissenschaftssystem gewinnt zunehmend an Gesellschaftseinfluss. Zudem ist es nicht nur in den USA mittlerweile außerordentlich schwierig geworden, einen leitenden Medizinforscher zu finden, der in keiner finanziellen Abhängigkeit zur Pharmaindustrie steht [2]. [3]Von diesem Phänomen der ungenügenden Kontrolle des Wissenschaftsbetriebes ist offenbar auch der SPIEGEL nicht ausgenommen – ein Phänomen, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die Inhalte von bedeutenden Fachmagazinen wie Nature oder auch die Aussagen von Medizinautoritäten kritiklos bzw. ungeprüft übernommen werden.

Aussagen von Medizinautoritäten werden ungeprüft weitergegeben – selbst bei fehlendem Kausalnachweis
Themenfelder wie Mobilfunk [4], Gentechnologie [5] oder auch Amalgam [6] wurden in diesem Zusammenhang auf SPIEGELblog bereits erörtert. Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen „Third Hand Smoke“ – der Gestank von „kaltem“ Tabakrauch, der sich etwa in Haaren, Kleidern und Teppichen festgesetzt hat. Berichte darüber, dass von Third Hand Smoke ernste Gesundheitsgefahren ausgehen, haben Anfang des Jahres die Runde durch die Medien gemacht, und auch SPIEGEL Online griff das Thema bereitwillig auf. Dabei wurde an die Leser die Botschaft weitergegeben, dass „die riechenden Reste tatsächlich ein riesiges Problem sind“, weshalb „US-Forscher nun warnen: Der sogenannte Third Hand Smoke ist ihnen zufolge eine Gefahr, die bisher völlig unterschätzt wird“. Das grundlegende Problem an der Sache ist nur, dass kein Kausalzusammenhang belegt werden konnte.

Sicher, im Zigarettenqualm sind Hunderte äußerst giftige Substanzen enthalten – und es gibt wohl kaum jemanden, der nicht angewidert, wenn ihm kalter Tabakgestank in die Nase steigt. Und auch ist es sicher so, dass Kinder generell viel mehr Staub einatmen als Erwachsene, weil sie häufiger am Boden herumkrabbeln. Und in diesem Staub, so die Argumentation, seien im Zweifelsfall auch die Third-Hand-Smoke-Giftstoffe enthalten. Und da Kinder ein geringeres Körpergewicht als Erwachsene haben, seien sie einer bis zu zwanzigfach erhöhten Dosis ausgesetzt.

Doch es gibt keine Untersuchung, die klar belegt, dass so niedrige Giftstoffexpositionen von Rauch, der Teppichen oder Gardinen anhaftet, „tatsächlich zu einem vermehrten Auftreten von Krankheiten bei Kindern führt“, worauf etwa auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in einem medienkritischen Beitrag am 18. Januar [7] aufmerksam macht. „Diese Behauptung findet sich auch nicht in der zitierten Studie [aus dem Fachjournal Pediatrics [8]].“ Jonathan Winickoff, der an der Harvard University lehrt und die Studie leitete, hatte nämlich keine Experimente durchgeführt, sondern lediglich Telefoninterviews. Entsprechend lautet auch der Titel der Arbeit „BELIEFS about the effects of ‚thirdhand‘ smoke“. So liest sich der Artikel auf SPIEGEL Online aber nicht.

Der SPIEGEL wendet das Vorsichtsprinzip nur selektiv an
Jetzt könnte man aus Sicht von SPIEGEL Online natürlich sagen, dass die Medizin immer noch eine „Kunst von Wahrscheinlichkeiten“ oder im besten Falle eine „Wissenschaft der Unsicherheiten“ ist [9], wie es William Osler (1849–1919) [10], der als Vater der modernen Medizin gilt, ausdrückte. Doch wenn man die Medizin so betrachtet, was absolut nachvollziehbar ist, so dürfte man dies nicht nur – wie der SPIEGEL – selektiv in Bezug auf ein bestimmtes Thema wie Third Hand Smoke tun, sondern man müsste grundsätzlich auf alle Medizinthemen so schauen. Mit anderen Worten: Das Nachrichtenmagazin müsste jeden potenziellen oder tatsächlichen Gefahrstoff mit entsprechendem Argwohn betrachten. Dies ist jedoch nicht der Fall, was willkürlich anmutet.

Wenn es etwa, wie erwähnt, um mögliche Gefahren von Mobilfunkstrahlen geht, so wiegelt der SPIEGEL vollkommen ab, genau wie beim Thema Quecksilber in Amalgamplomben – um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen. Während der SPIEGEL also dem Forscher Winickoff von der Universität mit dem reputierlichen Namen Harvard unwidersprochen folgt, wenn dieser die Gefahren von kaltem Rauch einfach damit begründet, dass es letztlich „kein sicheres Expositionsniveau für Tabakrauch gibt“, so tut der SPIEGEL das nicht, wenn etwa Amalgamkritiker dasselbe für Quecksilber vortragen und dafür auch Belege vorzeigen.

In Anbetracht der Vielzahl der Giftstoffe sollte das Vorsichtsprinzip bei der Berichtertattung generell oberstes Gebot sein
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt in diese Zusammenhang noch zu bedenken: „Wenn schon kein Kausalzusammenhang belegt werden konnte, wäre es aber hilfreich gewesen, Mindestkonzentrationen abzuschätzen, bei deren Überschreitung man eine reale Gefahr vermuten könnte.“ Doch birgt dieser Vorschlag das Problem, dass die Bestimmung von Mindestkonzentrationen ein äußerst schwieriges Unterfangen ist.

So werden wir alle täglich nicht nur mit kaltem Tabakrauch, sondern auch mit etlichen anderen Giftstoffen etwa aus Autoabgasen oder Laserdruckern oder der Pestizidlandwirtschaft konfrontiert. Letztlich müsste man also die Gefahren, die sich aus der Summe all dieser Toxine ergeben könnte, bei der Risikobeurteilung jedes einzelnen Giftstoffes mit einbeziehen. Hinzu kommt, dass jeder von uns unterschiedlich ist, sprich wir haben nicht alle dieselbe Konstitution, um mit den vielen Giftstoffen fertig werden zu können.

In Anbetracht dessen kann die Lösung für die Medien eigentlich nur sein, den Argwohn gegenüber Medizinautoritäten bei der Berichtertattung generell zum obersten Gebot zu machen – was aber leider alles andere als der Fall ist. Der SPIEGEL steht hier freilich nicht alleine da.