- SPIEGELblog - http://www.spiegelblog.net -

Haben Antidepressiva wie Prozac Tim K. zu seinem Amoklauf veranlasst? Diese naheliegende Frage stellt der SPIEGEL erst gar nicht

[1]

Der US-Student Steven P. Kazmierczak nahm Antidepressiva - und erschoss fünf Studenten und sich selbst

Auch SPIEGEL Online treibt natürlich die Frage um: „Was machte Tim K. zum Amokläufer, der 15 Menschen erschossen hat?“ Doch in dem Artikel, in dem diese Frage erörtert wird [2], heißt es lediglich, der 17-jährige Tim K. „soll depressiv gewesen sein und sich in Gewaltphantasien ergangen haben“. Der SPIEGEL bleibt also dabei stehen, darüber zu sinnieren, ob die Depression Tim K.  zu seiner Irrsinnstat veranlasst hat. Auch lässt sich das Nachrichtenmagazin über die üblichen Verdächtigen wie PC-Killerspiele [3] aus oder auch über Merkels Vorschlag, Waffenbesitzer besser zu kontrollieren [4].

Scheut der SPIEGEL erneut Kritik an der Pharmaindustrie?
Doch die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, nämlich ob Antidepressiva den Schüler haben Amok laufen lassen, erwähnt der SPIEGEL überhaupt nicht – was absolut unverständlich ist, wenn man bedenkt, welche Anhaltspunkte hierfür vorliegen. Ist es also Rechercheunvermögen, fehlendes Wissen – oder das beim SPIEGEL zu beobachtende Phänomen, sich mit Kritik an der Pharmaindustrie zurückzuhalten (siehe SPIEGELblog-Beitrag [5])?

Auch der Amokläufer von Illinois nahm Prozac – und fühlte sich dabei wie ein „Zombie“
So berichtete die New York Times im Februar 2008 in dem Artikel „Reports of Gunman’s Use of Antidepressant Renew Debate Over Side Effects“ [6], dass „in den vergangenen Jahren das Anitdepressivum Prozac sowie vergleichbare Medikamente wie Paxil und Zoloft in Verbindung gebracht wurden mit Selbstmorden und gewalttätigem Verhalten von Hunderten von Patienten. Auch der [der 27-jährige Soziologie-Student] Steven P. Kazmierczak hatte das Präparat Prozac gerade erst abgesetzt und dann in einem Amoklauf fünf Studenten von der Northern Illinois University sowie sich selbst erschossen, wie seine Freundin Jessica Baty berichtete. Baty sagte dem Sender CNN in einem Interview, dass sich Kazmierczak durch Prozac ‚wie ein Zombie fühlte‘.“

Prozac-Mythos: Von der Wunderpille zum möglichen Verursacher von Amokläufen
Kurz darauf brachte der Guardian einen Artikel über die Entstehung des „Prozac-Mythos“ [7]. Darin heißt es:

„Es dauerte 20 Jahre bis die Nebenwirkungen von Valium an die Oberfläche kamen. Vielleicht dauert es 20 Jahre in unserer Welt, in der Medikamene heftig gepusht werden, bis die Wahrheit über sie ans Licht dringt. Hier ist ein ungefährer Abriss der 20 Jahre, in denen Prozac und vergleichbare Präparate auf dem Markt sind:

Stufe 1: Ein Wundermedikament wie Prozac wurde entdeckt – und es soll allen Trübsinn wegblasen.

Stufe 2: Probleme, die in klinischen Studien mit der ‚Wunderpille‘ beobachet werden, werden zunächst noch unterdrückt, dringen aber langsam an die Öffentlichkeit.

Stufe 3: Regelmäßig werden alptraumartige Berichte bekannt, in denen Antidepressiva in Verbindung gebracht werden mit Akathisie (unstillbarem Bewegungsdrang) [8], Gewaltbereitschaft, Selbstmorden und AMOKLÄUFEN.“