KISS-Syndrom: Der SPIEGEL und der schiefe Blick auf alles, was nach Alternativmedizin riecht

  19. März 2009, von T. Engelbrecht

(Mit Dank an Tilo Neuhaus für den Hinweis)

Der Beitrag „Biedermanns schiefe Kinder“ im aktuellen SPIEGEL (siehe Screenshot) zeigt erneut, dass das Nachrichtenmagazin auf die etablierte Schulmedizin voll vetraut und alles, was irgendwie nach Alternativmedizin riecht, mit Vorliebe verunglimpft.

Sicher, weiß Gott nicht alles, was aus der so genannten alternativmedizinischen Ecke kommt, ist lobenswert – und nicht alles an der Schulmedizin ist zu verteufeln. Aber der SPIEGEL hält die Schulmedizin so hoch, als sei sie der Gral der Weisheit – und das, obwohl die schulmedizinische Forschung weitgehend von der Pharmaindustrie diktiert wird und Betrug an der Tagesordnung ist und zugleich Studien zu alternativmediznischen Verfahren oft schlicht nicht finanziert werden. Bemerkenswert auch, dass der SPIEGEL hier auf eine Einzelperson draufhaut – doch wenn es um das gigantische Skandalverhalten der Pharmabranche geht, so hat er für diese eine Art Schonraum eingerichtet (SPIEGELblog berichtete).

Die Schulmedizin taugt nicht als Kronzeuge für solide Therapien
In dem genannten Artikel geht es um einen Arzt namens Dr. Heiner Biedermann, der mittels einiger offenbar recht simpler Griffe bei Babys Blockaden im Halswirbelbereich löst und sie dadurch von dem so genannten KISS-Syndrom befreien will (KISS steht für „Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung“). Die Methode mag ja zu kritisieren sein, doch Fakten, die belegen, dass die Methode nutzlos ist, liefert der SPIEGEL nicht. Im Gegenteil.

So wird zu Beginn des Artikels sogar ein positives Beispiel geschildert, bei dem eine Mutter ihr Schreikind nicht in den Griff bekommt und dann nach einer „Ärzte-Odyssee“ Hilfe bei dem Chirurgen Biedermann findet, der mit seiner manualmedizinischen Behandlung dem Schreien ein Ende setzt. Doch anstatt diesen Behandlungserfolg kritisch zu würdigen, gewinnt der Leser beim Weiterlesen zunehmend den Eindruck, dass dieser Behandlungserfolg bestenfalls ein Zufallstreffer einer anrüchigen Methode sein muss. Grund laut SPIEGEL: Dr. Biedermann würde nicht „differenziert genug“ an die Sache herangehen, und Studienergebnisse seien „für ihn weniger wichtig“.

Dr. Biedermann bezeichnet dies als „glatte Lüge“. Nicht nur hätte die Redakteurin des SPIEGEL während ihres Besuchs in seiner Praxis etlichen Elterngesprächen gelauscht und sei dabei Zeuge gewesen, wie er immer wieder auf die verschiedenen möglichen Ursachen der Beschwerden hingewiesen hätte. Das klingt nicht danach, als sei Dr. Biedermann „undifferenziert“.

Auch habe er mit der Redakteurin, so Biedermann, „gerade über die enormen Schwierigkeiten klinischer Studien zu diesen Themen gesprochen“. Und nicht zuletzt hätte seine „Arbeitsgruppe inzwischen über 100.000 Babys behandelt, und die übergroße Mehrzahl der Familien war zufrieden.“ Stimmt das oder stimmt das nicht? Der SPIEGEL erzählt es uns nicht…

Statt dessen wird der Chirurg Biedermann als „Manualmediziner“ und auch als „KISS-Guru“ abgekanzelt, was verdeutlicht, dass es den Autorinnen nicht wirklich darum geht, die relativ neue Methode kontrovers zu diskutieren. Die Schreibe erinnert im Grunde an Enzensbergers Beschreibung, wonach der SPIEGEL eine Art „Bild am Montag“ sei.

Absurd mutet dabei auch an, dass der SPIEGEL die Schulmedizin als den großen Kronzeuge hochhält. „Schulmediziner“, so das Nachrichtenmagazin, würden das KISS-Syndrom für „groben Unfug“ und letztlich für „erfunden“ halten. Doch gerade die Schulmedizin ist ja besonders aktiv, wenn es ums Erfinden von Krankheiten geht,wie selbst SPIEGEL-Redakteur Jörg Blech in seinem Buch „Die Krankheitserfinder“ dargelegt hat. Dieses Wissen scheint noch kein Allgemeingut in der SPIEGEL-Redaktion zu sein.

 

6 Kommentare zu “KISS-Syndrom: Der SPIEGEL und der schiefe Blick auf alles, was nach Alternativmedizin riecht”

  1. elnin0 sagt:

    Die Verlogenheit der Pharmakonzerne rechtfertigt aber keine kommerzielle Betrügereien mit erfundenen Krankheiten.

    Nur weil die Pharma Krankheiten erfindet dürfen die andern auch?
    Das Babys Schreiphasen haben ist normal und kommt recht häufig vor. Die Eltern wollen helfen und sind selber nervlich am Ende, auf gehts zum alternativen Guru, der macht 2-3 Handgriffe will ein wenig Geld und den Eltern geht es besser.

    Wer heilt hat recht, aber dieses heilen muss wissenschaftlich belegbar sein. Bei allen!

  2. nackenstarre sagt:

    @elnin0

    1. Das Skandalverhalten der Pharmabranche ist sicher 1000 mal gravierender als das, was Dr. Biedermann da verzapft, denn das Skandalverhalten treibt viele Menschen in den Tod. In Anbetracht dessen ist der Schonraum, den der Spiegel der Pharmabranche einräumt, einfach unangemessen.

    2. Sie schreiben, Dr. Biedermann würde „kommerzielle Betrügereien“ machen – wo aber ist der Beleg dafür? Aus dem Spiegel-Artikel geht es nicht hervor.

    3. Im Gegenteil, der Artikel selber berichtet von einer Frau, der nach einer „Ärzte-Odysse“ geholfen wurde. Hier zumindest hat er, wenn man dem Artikel Glauben schenken darf, geheilt – hat er also doch recht?

    4. Dr. Biedermann selber meint, seine Arbeitsgruppe hätte bereits 100.000 Babys behandelt, und dies zum Großteil zur Zufriedenheit der Familien. Stimmt das oder stimmt das nicht? Der Spiegel erzählt es uns nicht…

    5. Sie meinen, jede Therapie müsse wissenschftlich belegbar sein. Doch in dem Blog-Beitrag wird ja zurecht darauf hingewiesen, dass alternativmedizinische Methoden tendenziell unerforscht bleiben. Wo ist harsche Kritik des Spiegel in Bezug darauf – also am pharmadominierten Forschungsbetrieb, der fundierte und umfassende Studien zu alternativmedizinischen Verfahren blockiert?

  3. Matz sagt:

    @elnin0

    Ich bin Softwareentwickler und sicherlich weit entfernt vom Glauben an obskure Heilmethoden. Das KISS-Syndrom ist auch für einen Schulmediziner identifizierbar, denn es ist eine eindeutige Verschiebung im Hals- oder Brustwirbelbereich. Wenn die Schulmediziner die von der Schulmedizin erfundene U3-Untersuchung richtig machen würden, hätten sie sogar gesehen daß der Kopf unseres Kindes zu einer Seite abfällt, wenn man ihn waagerecht hält, und zur anderen nicht.

    Es handelt sich um keine Betrügereien und keine erfundene Krankheit.
    Nur weil sie der Schulmedizin noch nicht bekannt ist (bzw. anerkannt) heißt das noch nicht, daß es sie nicht gibt (es gab auch mal eine Zeit, da wußten die Ärzte nichts von Bakterien und Viren…). Gegen Lernresitenz und Engstirnigkeit kann man leider nix machen. Umso ärgerliche finde ich diesen Spiegel-Artikel.

    Unser Sohn hat 4 Monate (nach Ablauf der Frist von „das sind nur 3-Monatskoliken“) vor Schmerzen geschrien. Wir sind von einem Schulmediziner zum anderen. Waren sogar nochmal in der Uniklinik über Nacht. Am Abend haben die Schulmediziner uns arrogant angegrinst, daß sie das schon hinbekommen. Am Morgen sagten sie uns kreidebleich, daß sie völlig ratlos sind.

    Dann sind wir über einen Tip zu einem Chiropraktiker. Der hat unser Kind geröntgt und uns die Blockade gezeigt (im Gegensatz zur Lüge im Artikel kann das sogar ein Laie erkennen!). Er hat benannten Griff angewendet und unser Kind war ab dann (ab diesem Moment!) geheilt. Es war relaxed und hat nur geschrien, wenn es etwas wollte. Und man konnte ihn auf den Rücken legen und er schlief ein.
    Seitdem habe ich zwar ein gesundes Mißtrauen gegen „die Schulmedizin“, war aber trotzdem noch nie beim Heilpraktiker.

  4. Olaf sagt:

    Nur weil meine Freundin in der Ergotherapie selbst KISS-Kinder (bei denen das Syndrom nicht rechtzeitig diagnostiziert wurde) behandelte, war die Odyssee mit unserem Sohn etwas kürzer als bei Matz. Auch er hat über 5 Monate wegen Schmerzen geschrien und weder Kinderarzt noch Kinder-Physiotherapeut sind auf den Hinweis meiner Freundin eingegangen, dass es sich um das KIS-Syndrom handeln könne. Wir sind also auf eigene Faust zum Heilpraktiker gegangen.
    Ich habe sogar noch Futter für die Kritiker der Methode: Es hat nicht bei der ersten Behandlung geklappt. Nach dem zweiten Mal war unser Kind jedoch wie ausgewechselt und hat sich seitdem normal entwickelt.

    Das Ungeheuerliche an der Sache ist, dass Eltern hier im Stich gelassen werden. Von den Ärzten und den Kassen. Die zahlen keinen Cent für die Behandlung. In diesem Land wird lieber jede Menge Geld für die Behandlung der Folgen eines nicht diagnostizierten und nicht geheilten Kiss-Kindes ausgegeben.
    Wäre meine Freundin nicht in der Branche tätig, hätten wir vielleicht heute noch nicht gewusst, was mit unserem Sohn nicht stimmt.

  5. Petra sagt:

    Ich kann Olaf und Matz nur zustimmen; wir waren nach sechs Wochen „Brüllen“ mit unserem Sohn bei Dr. Biedermann und haben ein anderes Kind mit nachhause genommen.
    Sicher hat unser Sohn nochmal geschrien, aber viel weniger und nicht 4-6 Stunden am Stück. Das Stillen klappte plötzlich auf beiden Seiten und der Bauch war auf der rechten Seite nicht mehr dick…..es tut mir heute noch leid das wir unserem Sohn ständig Kirschkernkissen auf den Bauch gelegt haben und Unmengen von Lefax verabreicht haben….

  6. Liam Wearer sagt:

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