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KISS-Syndrom: Der SPIEGEL und der schiefe Blick auf alles, was nach Alternativmedizin riecht

(Mit Dank an Tilo Neuhaus für den Hinweis)

Der Beitrag „Biedermanns schiefe Kinder“ [1] im aktuellen SPIEGEL (siehe Screenshot) zeigt erneut, dass das Nachrichtenmagazin auf die etablierte Schulmedizin voll vetraut und alles, was irgendwie nach Alternativmedizin riecht, mit Vorliebe verunglimpft. [2]

Sicher, weiß Gott nicht alles, was aus der so genannten alternativmedizinischen Ecke kommt, ist lobenswert – und nicht alles an der Schulmedizin ist zu verteufeln. Aber der SPIEGEL hält die Schulmedizin so hoch, als sei sie der Gral der Weisheit – und das, obwohl die schulmedizinische Forschung weitgehend von der Pharmaindustrie diktiert wird und Betrug an der Tagesordnung ist [3] und zugleich Studien zu alternativmediznischen Verfahren oft schlicht nicht finanziert werden. Bemerkenswert auch, dass der SPIEGEL hier auf eine Einzelperson draufhaut – doch wenn es um das gigantische Skandalverhalten der Pharmabranche geht, so hat er für diese eine Art Schonraum eingerichtet (SPIEGELblog berichtete [4]).

Die Schulmedizin taugt nicht als Kronzeuge für solide Therapien
In dem genannten Artikel geht es um einen Arzt namens Dr. Heiner Biedermann, der mittels einiger offenbar recht simpler Griffe bei Babys Blockaden im Halswirbelbereich löst und sie dadurch von dem so genannten KISS-Syndrom befreien will (KISS steht für „Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung“). Die Methode mag ja zu kritisieren sein, doch Fakten, die belegen, dass die Methode nutzlos ist, liefert der SPIEGEL nicht. Im Gegenteil.

So wird zu Beginn des Artikels sogar ein positives Beispiel geschildert, bei dem eine Mutter ihr Schreikind nicht in den Griff bekommt und dann nach einer „Ärzte-Odyssee“ Hilfe bei dem Chirurgen Biedermann findet, der mit seiner manualmedizinischen Behandlung dem Schreien ein Ende setzt. Doch anstatt diesen Behandlungserfolg kritisch zu würdigen, gewinnt der Leser beim Weiterlesen zunehmend den Eindruck, dass dieser Behandlungserfolg bestenfalls ein Zufallstreffer einer anrüchigen Methode sein muss. Grund laut SPIEGEL: Dr. Biedermann würde nicht „differenziert genug“ an die Sache herangehen, und Studienergebnisse seien „für ihn weniger wichtig“.

Dr. Biedermann bezeichnet dies als „glatte Lüge“ [5]. Nicht nur hätte die Redakteurin des SPIEGEL während ihres Besuchs in seiner Praxis etlichen Elterngesprächen gelauscht und sei dabei Zeuge gewesen, wie er immer wieder auf die verschiedenen möglichen Ursachen der Beschwerden hingewiesen hätte. Das klingt nicht danach, als sei Dr. Biedermann „undifferenziert“.

Auch habe er mit der Redakteurin, so Biedermann, „gerade über die enormen Schwierigkeiten klinischer Studien zu diesen Themen gesprochen“. Und nicht zuletzt hätte seine „Arbeitsgruppe inzwischen über 100.000 Babys behandelt, und die übergroße Mehrzahl der Familien war zufrieden.“ Stimmt das oder stimmt das nicht? Der SPIEGEL erzählt es uns nicht…

Statt dessen wird der Chirurg Biedermann als „Manualmediziner“ und auch als „KISS-Guru“ abgekanzelt, was verdeutlicht, dass es den Autorinnen nicht wirklich darum geht, die relativ neue Methode kontrovers zu diskutieren. Die Schreibe erinnert im Grunde an Enzensbergers Beschreibung, wonach der SPIEGEL eine Art „Bild am Montag“ sei.

Absurd mutet dabei auch an, dass der SPIEGEL die Schulmedizin als den großen Kronzeuge hochhält. „Schulmediziner“, so das Nachrichtenmagazin, würden das KISS-Syndrom für „groben Unfug“ und letztlich für „erfunden“ halten. Doch gerade die Schulmedizin ist ja besonders aktiv, wenn es ums Erfinden von Krankheiten geht,wie selbst SPIEGEL-Redakteur Jörg Blech in seinem Buch „Die Krankheitserfinder“ [6] dargelegt hat. Dieses Wissen scheint noch kein Allgemeingut in der SPIEGEL-Redaktion zu sein.