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Mit Rüttgers, Friedman und Seebacher-Brandt auf dem Schoß lässt sich halt nur einseitig dampfplaudern

„Wer den SPIEGEL aufmerksam liest, weiß, dass Deutschland… so ein Land wie England werden soll, das einst von Margaret Thatcher ohne soziale Sentimentalitäten auf Vordermann gebracht wurde. Das wäre dann ein Land, in dem die Gewerkschaften nichts mehr zu melden haben, die Bahn aber auch nicht besser funktioniert und die Menschen monatelang auf medizinische Versorgung warten. Ein Land, das aber – von Hamburg, Brandstwiete 19, aus gesehen – irgendwie moderner und besser wirkt.“
Oliver Gehrs, „Der SPIEGEL-Komplex“, S. 25

Unjournalistisch kommt der SPIEGEL auch immer dann daher, wenn er sich mit dem politischen Establishment gemein macht und alles daran setzt, in seinen Beiträgen Kritik am Status quo abzuqualifizieren. [1]So geschehen etwa in einem Stück über die Sendung Anne Will zur Hessenwahl [2]. In diesem Fall setzt sich der SPIEGEL-Autor Reinhard Mohr vor allem den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) auf den Schoß und „attackiert“ mit ihm als Sprachrohr die Linkspartei als „politikunfähig“.

SPIEGEL macht sich mit Politik-Establishment gemein
Zwar kommt in dem Beitrag anschließend Sahra Wagenknecht von der Linkspartei zu Wort, doch wird sie in abfälliger Weise in den Text eingebaut. Heißt es doch, Wagenknecht hätte „mehrfach zu ihrer eingeübten Suada über den ‚entfesselten Kapitalismus‘ angehoben“. „Eingeübte Suada“ heißt in diesem Zusammenhang so viel wie einstudiertes Politikergequatsche – was man ja vielleicht sogar schreiben kann, wenn man bedenkt, dass die Linke in Berlin, wo sie mitregiert, ja ziemlich weit davon entfernt ist, irgend etwas an den herrschenden Verhältnissen im Sinne des Bürgers zu verändern. Problematisch ist jedoch, dass dieses diffamierende Etikett nur Sahra Wagenknecht angeheftet wird, nicht aber dem CDU-Oberschwafler Rüttgers, genau so wenig wie den anderen Gästen der Sendung, den Dampfplauderern Michel Friedman und Brigitte Seebacher-Brandt.

Und diese Einseitigkeit setzt sich in Reinhard Mohrs Beitrag fort. So wird gleich darauf nur noch auf der Linkspartei herumgehackt. Zunächst schmäht der SPIEGEL – in diesem Fall ganz eigenständig – Oscar Lafontaine als „geradezu prophetischen Weltwirtschaftsexperten“ ab – und unterschlägt dabei mal so eben die Tatsache, dass sie gesamte Wirtschafts- und Politikerelite ganz besonders in der jüngsten Vergangenheit auf höchst fahrlässige Weise an der Realität vorbeiorakelt hat, als es darum ging, etwas Gehaltvolles zu den jeweiligen Konjunkturaussichten zu sagen.

An der tumben Kapitalismusanbetung von Seebacher-Brandt stört sich der SPIEGEL überhaupt nicht
Anschließend holt sich der SPIEGEL-Autor dann auch noch Seebacher-Brandt auf den Schoß, die sich in der Sendung wohlgemerkt mit würdelosen Hetztiraden gegen alles, was linker ist als die CSU, sowie mit einer tumben USA- und Kapitalismusanbetung hervortat. Was den SPIEGEL aber nicht daran hindert, sie in dem Artikel als seriöse Zeugin dafür aufzufahren, dass die Streitigkeiten in der Linkspartei nichts anderes als „Linke Folklore“ seien.

Unterstützung erhielt sie, wie wir dann vom Autor Mohr weiter erfahren, von Michel Friedman, der zum Besten geben darf: „[Die Linke] ist eine Selbstfindungs- und Therapiegruppe.“ Dass dies mindestens ebenso auf Friedmans CDU, die die Ost-CDU aus der DDR LDPD übernommen hat und auch nationalkonservative Strömungen beherbergt, zutrifft, unterschlägt das Nachrichtenmagazin dabei geflissentlich.

Und wen, bitte schön, haben wir mit Michel Friedman da überhaupt sitzen: Vor einigen Jahren musste er sich noch öffentlich bei seiner von der Koks- und Sexaffäre völlig überrumpelten Lebensgefährtin Bärbel Schäfer entschuldigen – wobei ein noch pikanterer Aspekt bei dem medial ausgeschlachteten Skandal etwas unterging, nämlich dass Friedman, wie der Focus 2003 schrieb [3], „keine Silbe über die jungen Frauen aus Osteuropa verlor, die – illegal nach Deutschland geschleust und vermutlich zur Prostitution gezwungen – ihn häufig bedienen mussten.“ Was Friedman nicht gerade dazu prädestiniert, als Kronzeuge dafür herhalten zu können, andere als Selbstfindungs- und Therapiegruppe abzustempeln.

Beim Politkergequatsche von Rüttgers sieht der SPIEGEL kein Richtigstellungsbedarf
Wer denkt, SPIEGEL-Autor Mohr hat hier in seiner Diffamierungswut nun einen Punkt gesetzt, sieht sich getäuscht. Und so wird noch mal Rüttgers bemüht, der Sahra Wagenknecht „Ahnungslosigkeit in Wirtschaftsfragen“ attestieren darf – was wirklich ein Stück aus dem Tollhaus ist, wenn man bedenkt, mit welcher Ahnungslosigkeit uns die etablierten Parteien in die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise gesteuert haben. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, heißt es doch so schön.

Dennoch fühlt sich Mohr offenbar so wohl mit Rüttgers auf dem Schoß, dass er ihn gleich noch mal zu Wort kommen lässt: „Warum lassen Sie die ganze Zeit das Verstaatlichungsgequatsche [von Sahra Wagenknecht] durchgehen?“, fragte Rüttgers die Moderatorin Anne Will empört, der, so lesen wir in dem Artikel weiter, „darauf bestand, falsche Behauptungen von Frau Wagenknecht richtig zustellen“.

Dass vielleicht auch das Politikergeschwafel von Jürgen Rüttgers der Richtigstellung bedürfen könnte, kommt dem SPIEGEL-Autor Reinhard Mohr hingegen gar nicht in den Sinn. Was auch verwundert, wenn man bedenkt, dass das „Verstaatlichungsgequatsche“ von Sahra Wagenknecht und die derzeit in der Regierungskoalition diskutierten Konzepte zur Verstaatlichung von Banken oder der Staatsübernahme kritischer Bankpapiere gar nicht mehr so weit auseinanderliegen, Rüttgers dies aber mit seiner Kampfrhetorik verdeckt.

Kurzum: Der SPIEGEL-Beitrag vollführt hier eine einseitige Parteinahme, die eines journalistischen Mediums, das sich selbst als investigativ und überparteilich sieht, doch ziemlich unwürdig ist – zumal der Beitrag nicht einmal als Kommentar gekennzeichnet ist.