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Sarrazins Äußerungen über Migranten: SPIEGEL-Seher kennen mehr – Vorurteile

(Mit Dank an Brigitta)

Man [1]dachte, Thilo Sarrazins Äußerungen über Migranten in Deutschland wären an Dreistigkeit und völkischem Chauvinismus nicht zu überbieten (von echten Nazis einmal abgesehen). Der frühere Berliner SPD-Finanzsenator hatte in einem Interview mit der Zeitschrift Lettre International Türken und Araber kritisiert und unter anderem erklärt: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“ Die Lösung des Problems könne nur heißen: kein Zuzug.

Der SPIEGEL blendet mal wieder Systemkritik aus – und bedient stattdessen auf billige Weise Vorurteile
Doch dann kam SPIEGEL TV mit einem langen Bericht (siehe Screenshots) und sprang damit dem Hobby-Rassisten Sarrazin letztlich beiseite. Dem geneigten RTL-Publikum wurde ein Beitrag gezeigt, der kein Vorurteil über Ausländer unbeachtet ließ.

[2]Sicher, Integration kann letztlich nur funktionieren, wenn sich beide Seite bewegen: Der Staat, indem er die Rahmenbedingungen schafft, und die Migranten, indem sie sich zumindest bis zu einem gewissen Grad auf die Kultur des betreffenden Landes einlassen wollen. Versäumnisse liegen auf BEIDEN Seiten vor, ohne Frage. Das Problem des SPIEGEL-TV-Beitrags liegt nun darin, dass er die krassen Versäumnisse der Integrationspolitik in Deutschland während der vergangenen 50 Jahre komplett ausblendet; statt dessen fokussiert man sich ausschließlich auf die Menschen mit einem türkischen bzw. arabischen Hintergrund – und das auf eine Weise, bei der jedes noch so billige Vorurteil bedient wird.

Hier zeigt sich wieder einmal, dass es den SPIEGEL-Redakteuren nicht um sachliche journalistische Aufklärung geht, sondern darum, in BILD-Manier Krawall zu schlagen und damit Einschaltquote (oder Auflage) zu machen. Dabei wird wie so oft auch hier tunlichst vermieden, Kritik am System zu üben. Der SPIEGEL kommt also mal wieder staatstragend daher. Staatstragender Journalismus ist aber kein Journalismus, sondern PR im Sinne der Regierenden.

Der Blog bleib-passiv.de hat zu dem SPIEGEL-TV-Beitrag ein gepfeffertes und damit sehr lesenswertes Stück [3] verfasst:

Berlins ehemaliger Finanzsenator (SPD) und jetziges Bundesbank-Vorstandsmitglied, Thilo Sarrazin, hat schon häufiger mit kruden Aussagen für Aufregung gesorgt. Doch diesmal brach ein völkischer Zorn aus ihm heraus, der eher den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt, als dass er zur Volksbelustigung zu gebrauchen wäre. In einem Gespräch mit der Zeitschrift Lettre International„gab er u.a folgendes zum Besten: „Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest soll woanders hingehen.“ Für ihn sind vor allem große Teile der arabischen und türkischen Einwanderer weder „integrationswillig“ noch „integrationsfähig“. „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“ All das mündete in seiner Forderung, die die NPD kaum besser formulieren könnte: „Generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen für Einwanderer.“

Spiegel TV oder besser: Junge Freiheit TV
Der Beitrag, der sich offiziell mit der Frage beschäftigte, ob Sarrazins Aussagen eine „unschöne Wahrheit oder unerträglicher Rassismus“ seien, wird schon voller Hohn eingeleitet: „Die Liste seiner Vorwürfe war politisch dermaßen unkorrekt, dass es den Gutmenschen in unserem Land ganz schlecht wurde!“ Schon mit dieser Aussage positioniert sich Spiegel TV eindeutig, denn der Begriff „Gutmenschen“ wird überwiegend im extrem rechten Lager benutzt und vor allem dann, wenn es darum geht, Menschen mit Courage, die sich gegen Rassismus engagieren, zu diskreditieren. Sucht man in einer populären Suchmaschine nach eben jenem Begriff, erscheint nicht zufällig als erster Fund (nach Wikipedia) die Plattform „Politically Incorrect“ der Neuen Rechten. Mit „Deutschlandpolitik“ und „Geisteswelt“ befinden sich noch 2 weitere Seiten unter den ersten 10 Suchergebnissen, die getrost in die Ecke zwischen Konservativen und Neonazis eingeordnet werden können.

In dieser Form eingeleitet wundert es nicht, dass der Beitrag systematisch alle Klischees abarbeitet, die über Migranten, türkischer oder arabischer Herkunft, im Umlauf sind.

1. Fundamentalistische Muslime tragen Kopftücher
Gezeigt wird eine Hochzeit, bei der die Frau verhüllt ist. Für Spiegel TV steht sie „ganz in der Tradition fundamentalistischer Muslime“. Dass tatsächlich nur die Tradition ein Beweggrund sein könnte, ohne dass eine Nähe zu muslimischen Fundamentalisten konstruiert werden muss, die allgemein mit Attentätern assoziiert werden, scheint außerhalb der Vorstellungskraft der Beitragsautoren zu liegen.

2. Bei Muslimen gibt es keine Gleichberechtigung
Zitat Spiegel TV: „Beim Thema Gleichberechtigung ist der Ehemann Lichtjahre von der deutschen Kultur entfernt.“ Darauf das Zitat des Mannes: „Sie darf ihren Senf dazu abgeben und ich auch.“ Soweit scheint er aber einer Gesellschaft, die sowohl Ehegattensplitting als auch Eva Hermann hervorgebracht hat, noch voraus zu sein. Anschließend führt er allerdings aus, dass er beim Fernseher das Sagen hat, sie bei Waschmaschine und Kühlschrank. Das zeugt zwar von einem überholten Rollenverständnis, aber ist vermutlich der Normalzustand in den meisten deutschen Familien.

3. Ausländer können kein Deutsch und wollen es auch nicht lernen
Für diese These musste unglücklicherweise gerade ein Deutschkurs für Frauen an der Volkshochschule Neukölln herhalten, in dem Spiegel TV investigativ recherchierte und herausfand, dass einige der Teilnehmerinnen einem Gespräch in deutscher Sprache noch nicht gewachsen sind.

4. Ausländer(jugendliche) sind kriminell
Nachdem eine typische Neuköllner Clique von ihren Gewalt-Erfahrungen berichtet und ihre Messer präsentieren durfte, kommt eine Jugendrichterin vom Amtsgericht Tiergarten zu Wort. Laut Spiegel TV sind 80 Prozent der von ihr jährlich 400 verurteilten Jugendlichen Migranten. Erschreckende Zahl? Eher nein. In ganz Berlin macht der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergund über 40 Prozent aus, in Tiergarten (Großbezirk Mitte mit den Stadtteilen Mitte, Tiergarten und Wedding) dürfte der Anteil noch einmal deutlich darüber liegen. 80 Prozent Straftäter bei einem geschätzten Anteil von über 50 Prozent bedeutet zwar immer noch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund bei Straftaten überrepräsentiert sind, doch der Wert dieser Aussage ist gleich Null. Wichtiger wäre doch zu fragen, wie hoch der Anteil verurteilter Jugendlicher ist, die aus sozial benachteiligten Familien stammen (siehe bpb zur Ausländerkriminalität). Die Jugendrichterin bedient sich lieber einfacherer Erklärungsmuster und erzählt, wie ausländische Kinder in kriminellen Verhältnissen aufwachsen und ganze Familien „polizeiliche Ermittlungsverfahren aufweisen: Mutter, Vater und“ – Achtung nächstes Vorurteil – „zwischen 8 und 16 Kinder.“

5. Ausländerkinder sind dumm und lernunwillig
Ein Berufsberater besucht eine 9. Hauptschulklasse, in der nur 3 von 10 Kindern anwesend sind; die Anwesenden stellen sich nicht unbedingt geschickt an. Fazit: Dieser Abschnitt des Beitrages würde eher zu einem Bericht über das Versagen des dreigliedrigen Schulsystems passen, der aufzeigt, wie chancenlos Kinder aus benachteiligten Familien in Deutschland dabei sind, über Bildung den sozialen Aufschwung zu schaffen.

Danach erklärt uns Spiegel TV, dass 75 Prozent der türkischstämmigen Berliner keinen Schulabschluss haben. Tatsächlich sind türkischstämmige Migranten Verlierer der versäumten Integrationspolitik der letzten 50 Jahre. Wo allerdings die Zahl von 75 Prozent herkommt, weiß vermutlich nur Thilo Sarrazin. Laut einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung vom 26. Januar 2009 (S. 36 ff) sind 30 Prozent der türkischstämmigen Bürger ohne Bildungsabschluss.

6. Die Türken leben vom Staat und belasten die Sozialsysteme
Spiegel TV weiß: „Die Hälfte der Türken in Berlin lebt vom deutschen Staat.“ Hierzu noch mal die Studie des renommierten Berlin-Instituts: „Ihr – relativ betrachtet – bestes Integrationsergebnis erreichen die Personen türkischer Herkunft beim Vergleich der Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen. Sie sind mit 16 Prozent zwar doppelt so häufig von Sozialleistungen abhängig wie Einheimische, liegen aber im Vergleich mit anderen Migrantengruppen im Mittelfeld.“

Studien widersprechen außerdem der Annahme, dass Migranten die deutschen Sozialsysteme belasten. Bei Rainer Geißler (Die Sozialstruktur Deutschlands, 3. Auflage 2002, Wiesbaden) heißt es: „Die Gesamtrechnung – alle eingezahlten Steuern und Versicherungsbeiträge vs. alle Leistungen durch Staat und Versicherungen – ergibt, dass die Arbeitsmigranten für den deutschen Steuer- und Beitragszahler unter dem Strich keine Belastung, sondern ein Gewinn sind: danach wird die deutsche Bevölkerung pro Jahr und Kopf um ca. 400 DM entlastet, was betragsmäßig in etwa dem Solidaritätszuschlag zur Einkommenssteuer entspricht“.

Auch eine spanische Studie kam zu dem Schluss, „dass das Pro-Kopf-Einkommen in der Eurozone ohne Migranten von 1995 bis 2005 um 0,25 Prozent gesunken wäre, durch Einwanderung aber um 1,67 Prozent gestiegen ist. In Deutschland wäre der Rückgang mit minus 1,52 Prozent besonders deutlich gewesen“ (Berliner Zeitung).

7. Ausländer wollen sich nicht assimilieren
Kronzeugin ist eine junge Türkin, die nicht auf ihr Kopftuch verzichten will. Auch eine Arbeitsstelle schlägt sie aus, wenn sie ihr Kopftuch dort nicht tragen darf. Sie sucht seit einem ganzen Jahr nach einem Job – vergeblich. Da nicht davon die Rede ist, dass sie in einer öffentlichen Einrichtung, wie bspw. einer Schule arbeiten will, taugt dieses Beispiel wohl eher für Rassismus am deutschen Arbeitsmarkt. Nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gemäß §1 AGG darf niemand wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden. Dies gilt für das Zivil- und Arbeitsrecht (Quelle).

Fazit: Sieben Vorurteile, alle extrem vage gehalten, da eine wissenschaftliche Beweisführung nicht möglich ist, mit denen Spiegel TV hier versucht Stimmung zu machen. Erschreckend was hier 1,74 Millionen (8,0 Prozent Marktanteil) Fernsehzuschauern unter dem Deckmantel eines journalistischen Magazins als Wahrheit verkauft wird.