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SPIEGEL-Artikel über rechte Gewaltdelikte inhaltlich fern der Fakten und rhetorisch fragwürdig

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SPIEGEL Online, 27. Dez. 2008

Rechtsextreme Gewalt sollte – wie jede Art von Gewalt – in ihrer Dimension korrekt erfasst werden, genau so wie es die Datenlage hergibt. Genau dies ist SPIEGEL Online am 27. Dezember in dem Artikel „Gewaltdelikte in Deutschland – Zahl rechtsextremer Straftaten steigt drastisch“ [2] aber offenbar nicht gelungen. Dieser Beitrag ist in mehrfacher Hinsicht inhaltlich und rhetorisch fragwürdig.

Warum dies so ist, soll durch die Beantwortung der folgenden drei Fragen gezeigt werden:

Frage 1: Haben, wie von SPIEGEL Online suggeriert, die rechtsextremen GEWALTtaten in Deutschland wirklich „drastisch“ bzw. „um fast 30 Prozent“ zugenommen?
Frage 2: SPIEGEL Online spricht von einer „Steigerung um fast 30 Prozent“ auf „fast 12.000“ Delikte für die ersten 10 Monate des Jahres 2008, denn 2007, so die Begründung, hätten „die Behörden noch 9.206 Delikte gezählt. Doch ist die Zahl 9.206 verbürgt?
Frage 3: Im Artikel von SPIEGEL Online heißt es auch, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten von Januar bis Ende September 2008 von 716 auf 797 und damit „erheblich gestiegen“ sei. Dabei kann man leicht den Eindruck gewinnen, diese Taten und die Steigerung der Delikte sei auf Rechtsextreme zurückzuführen. Doch kann man das sicher so sagen?

Antwort auf Frage 1: Datenlage gibt keine Zunahme rechtsextremer Gewalttaten her

Wer den Artikel auf SPIEGEL Online liest, gewinnt einen falschen Eindruck. So wird suggeriert, es seien rechtsextreme GEWALTtaten, die so drastisch „um fast 30 Prozent“ auf „fast 12.000“ (genau 11.928) zugenommen hätten. Dies ergibt sich zum einen aus der Dachzeile „Gewaltdelikte in Deutschland“. Zum anderen heißt es bei SPIEGEL Online in der Bildunterschrift „Skinheads: Rechte Gewalt nimmt zu“ (siehe Screenshot oben)…Darüber hinaus wird im zweiten, fünften und anschließenden letzten Absatz des SPIEGEL-Online-Beitrags auf rechtsextreme Gewalttaten und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung Bezug genommen. In diesem Zusammenhang wird in dem Artikel außerdem gleich zweimal die brutale Messerattacke auf den Passauer Polizeipräsidenten Mannichl ins Spiel gebracht und Rechtsextremen zugeschrieben (Anm.: Schon am 15. Dezember brachte SPIEGEL Online die Schlagzeile: „Attentat auf Polizeichef: Wie Neonazis ihre Kritiker jagen“ [3]). Dabei ist es noch nicht bewiesen, dass Mannichl tatsächlich das Opfer einer Nazi-Attacke war (siehe auch Artikel von SPIEGELblog über vermeldete, aber nicht existierende Phantombilder [4]).

Viel entscheidender ist jedoch, dass an keiner Stelle des Beitrags auf SPIEGEL Online klar erwähnt wird, dass die dramatisch wirkende Zahl von 11.928 Straftaten eben nicht die Gewaltdelikte Rechtsextremer umschreibt. Diese liegen nämlich gemäß dem ebenfalls fragwürdigen Bericht der Frankfurter Rundschau „Rechte schlagen öfter zu“ [5], auf den sich SPIEGEL Online beruft, bei 639. Diese 639 GEWALTtaten, die gerade einmal 5,4 Prozent der insgesamt 11.928 rechten zugeordneten STRAFtaten entsprechen, wird von SPIEGEL online auch nicht genannt. Die verbleibenden 11.289 Taten „mit rechtsextremistischem Hintergrund“ umfassen im Übrigen Taten wie die Propaganda- und Kennzeichendelikte (wie den so genannten Hitlergruß), das Verwenden von Hakenkreuzen u.ä. – Dinge, die in dem Artikel von SPIEGEL Online ebenfalls keine Erwähnung finden.

Rechte GEWALTtaten gemäß offizieller Statistik wenn überhaupt um 30 Prozent gesunken
Die unten stehende Tabelle „Rechte und linke Gewalttaten 2005 bis Okt. 2008“ wertet die Verfassungsschutzberichte des Bundesinnenministeriums [6] aus. Dabei werden aus der Tabelle die Gewalttaten aus dem Feld „Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich ‚Politisch motivierte Kriminalität – rechts’“ (in der Tabelle nur „Gewalttaten rechts“) in den Jahren 2005 bis 2007 ersichtlich. [7]Für Vergleichszwecke ist auch eine Spalte mit den „Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich ‚Politisch motivierte Kriminalität – links’“ (in der Tabelle nur „Gewalttaten links“) eingefügt und auch die in der Statistik des Bundeskriminalamtes [8] erfassten allgemeinen Gewalttaten ohne politische Motivation nur für das Jahr 2007.

Die Tabelle zeigt, dass zumindest aus den verwendeten Kerndaten nicht nur keine „deutliche Steigerung“ rechtsextremistischer Gewalttaten ersichtlich ist. Vielmehr ist gemäß offizieller Datenlage die Zahl rechter Gewalttaten seit 2006 von 1.047 auf 767 (= 639 hochgerechnet auf 12 Monate) und damit um knapp 30 Prozent zurückgegangen – was im krassen Kontrast steht, was SPIEGEL Online gemeldet hat. Im Vergleich zu linken Gewalttaten übersteigen die rechten Gewalttaten diese übrigens meist um etwa 10 bis 15 Prozent. Und der Anteil der 980 „Gewalttaten rechts“ an sämtlichen 638.647 verübten Gewalttaten betrug 2007 etwa 0,15 Prozent.

Die Veränderte Zählweise bei der Erfassung rechter Straftaten als mögliche Ursache für gestiegene Deliktzahlen
Weiterhin verschweigt SPIEGEL Online eine mögliche Ursache einer Steigerung der Gesamtzahl von Delikten mit rechtsextremistischem Hintergrund (also nicht nur von den Delikten, die als Gewalttaten eingestuft werden). Dazu ein Zitat aus der Zeitung Die Welt vom 1. September 2008 [9]:

„Eine von Bund und Ländern im März [2008] verbindlich vereinbarte Zählweise bei der Erfassung von rechten Straftaten kann dazu führen, dass die Zahl dieser Taten in der Kriminalstatistik demnächst deutlich ansteigt. Das bestätigte der Direktor des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein (LKA), Hans-Werner Rogge, in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa. Bisher wurden Straftaten – beispielsweise so genannte Propaganda-Delikte wie Hakenkreuzschmierereien – erst dann als politisch motivierte Taten erfasst, wenn auch der Hintergrund aufgeklärt werden konnte. Die Länder seien nunmehr aufgrund der Vereinbarung dazu übergegangen, diese Taten generell als rechts motiviert zu erfassen […] Die neue einheitliche Erfassung führt letztlich dazu, dass die Zahl der Straftaten, die als rechts motiviert in der Statistik erfasst werden, deutlich höher sein wird‘, so Rogge.“

Das bedeutet: Jeder von einem Neonazi gezeigte Hitlergruß wird seit Frühjar 2008 genauso als rechtsextreme Straftat gewertet wie jedes von einem Linksradikalen auf ein CDU-Wahlplakat gepinseltes Hakenkreuz oder von einem Türken aus Jux an die Wand gesprühte SS-Runen. Dass diese Veränderung in der statistischen Zählweise auch einen Einfluss auf eine von SPIEGEL Online deklarierte „drastische Steigerung“ haben könnte, liegt auf der Hand. SPIEGEL Online teilt seinen Lesern diese wesentliche Information aber nicht mit.

LKA-Direktor Rogge verdeutlicht in der Welt auch die Auswirkungen der veränderten Zählweise an seinem eigenen Land Schleswig-Holstein: Demnach sei die Gesamtzahl der Straftaten, die als rechts motiviert in der Statistik erfasst werden, im ersten Halbjahr 2008 auf 380 Fälle gestiegen – im Vergleich zu 230 Fällen im selben Zeitraum des Vorjahres. „Das würde normalerweise für eine erdrutschartige Veränderung sprechen“, schilderte Rogge. Bei den Gewaltdelikten habe es allerdings eine rückläufige Entwicklung gegeben, von 28 (2007) auf 20 Fälle. „Ursache für die Steigerung ist eindeutig der Anstieg der erfassten Propagandadelikte um 150 Taten“, so das Fazit von Rogge.

Antwort auf Frage 2: Behauptete Steigerung rechtsextrem motivierter STRAFtaten „um fast 30 Prozent“ nicht belegt

Selbst wenn man davon absieht, dass der SPIEGEL-Online-Artikel suggeriert, die Zahl rechtsextremistischer GEWALTtaten sei „drastisch“ gestiegen, so ergibt sich immer noch ein gravierendes Problem. So heißt es gleich im ersten Absatz: „Bereits in den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden mehr Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund verübt als im GESAMTEN Jahr 2007 [Anm.: Hervorhebung durch SPIEGELblog]. Laut einem Bericht der ‚Frankfurter Rundschau’ hat das Innenministerium bis Ende Oktober 11.928 solcher Delikte registriert. Das entspreche einer Steigerung um fast 30 Prozent. 2007 hatten die Behörden noch 9.206 Delikte gezählt.“ Doch wie diese Zahl 9.206, die laut SPIEGEL Online wohlgemerkt die Gesamtzahl(!) 2007 rechter Taten angeben soll, zustande kommt bzw. was die Quelle dieser Ziffer ist, schreibt der Autor leider nicht (und eine Antwort auf Nachfrage von SPIEGELblog steht noch aus).

Der Artikel der Frankfurter Rundschau, auf dem der SPIEGEL-Artikel ja aufsetzt, nennt diese Zahl auch nicht. Statt dessen ist in der Rundschau von 10.935 rechten Straftaten die Rede. Diese Zahl 10.935 ist aber keine Gesamtzahl für das Jahr 2007, sondern bezieht sich auf den Zeitraum Anfang Januar und Ende Oktober 2007. Und die Frankfurter Rundschau nennt wenigstens auch die Bundestagsvizepräsidentin und „Linke“-Politikerin Petra Pau als Quelle für die 10.935.

Beide Medien schlussfolgern nun, dass „rechtsextreme Straftaten um fast 30 Prozent“ zugenommen hätten. Dabei ist die Zahl 9.206, die SPIEGEL Online nennt, noch heikler als die 10.935, die in der Frankfurter Rundschau zu lesen ist. Denn die Rundschau vergleicht wenigstens zwei vorläufige Zahlen, was prekär genug ist. Denn „Verlässliches kann man letztlich erst sagen, wenn die endgültigen bzw. validen Zahlen vorliegen“, wie Stefan Paris, Sprecher von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, gegenüber SPIEGELblog bestätigt. „Und das wird im April oder Mai 2009 der Fall.“ Zu bedenken sei in diesem Zusammenhang außerdem, so Paris weiter, „dass sich die Zählweise für rechte Straftaten im März 2008 geändert hat“.

SPIEGEL Online setzt unterdessen noch eins drauf und vergleicht die vorläufige Zahl 11.928 für 2008 mit einer angeblichen Gesamtzahl von 9.206 für 2007. Doch die endgültige und damit valide Gesamtzahl für politisch motivierte Straftaten mit rechtem Hintergrund für 2007 liegt fast doppelt so hoch wie die 9.206 von SPIEGEL Online, nämlich bei 17.176. Dies ergibt sich aus dem Bericht des Bundesinnenministeriums „Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2007“ [10].

Das heißt auch: Selbst wenn man SPIEGEL Online folgen würde und die vorläufige Zahl von 11.928 rechten Straftaten für die ersten zehn Monate dieses Jahres mit der endgültigen Zahl für das Gesamtjahr 2007, also mit 17.176, vergleicht, so käme man nicht zu einer Steigerung der rechten Straftagen um „fast 30 Prozent“, sondern umgekehrt zu einer Verringerung um mehr 30 Prozent. Und selbst wenn man die von SPIEGEL Online genannte vorläufige Zahl für 2008, also 9.206, auf 12 Monate hochrechnet und diese mit den 17.176 für das Jahr 2007 vergleicht, so käme man immer noch auch keine Steigerung, sondern auf eine Verringerung um fast 30 Prozent.

Überhaupt: Vorläufige Zahlen mit validen Zahlen zu vergleichen, ist, wie auch Stefan Paris sagt, „so, als wenn man Äfpel mit Birnen vergleichen würde“. Letztlich ist es also nur seriös, Vergleiche aufzustellen, wenn die validen Zahlen da sind – wobei, wie gesagt, für 2008 die veränderte Zählweise noch berücksichtigt werden müsste.

Antwort auf Frage 3: Antisemitische Straftaten – nicht immer sind Nazis am Werk

Im dritten Absatz des Artikels von SPIEGEL Online heißt es: „Erheblich gestiegen ist laut Frankfurter Rundschau auch die Zahl antisemitischer Straftaten. Von 716 auf 797 von Januar bis Ende September 2008.“ Für diesen Satz gelten die ebenfalls die oben erwähnten Bedenken: Denn nunmehr gilt die Schändung eines jüdischen Friedhofs automatisch als rechtsradikale Tat, wenn kein anderer Hintergrund nachgewiesen wird – auch wenn das Delikt in Wirklichkeit keinen oder einen anderen extremistischen Hintergrund hat.

Motivationen, die keinen nazistischen Hintergrund haben, sind dabei kein Hirngespinst und auch kein Versuch, rechtsextremistische Taten zu verharmlosen. Beispielhaft sei der Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge genannt, verübt im Jahr 2000 am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit, samt hingeschmierten Hakenkreuzen. Der damalige Bundeskanzler Schröder, innenpolitisch anderweitig schwer unter Druck, rief einen „Aufstand der Anständigen“ [11] aus, in dem sich die Bürger gegen Rechtsextremisten zur Wehr setzen sollten. Die Medien im allgemeinen zeigten sich besorgt und ordneten das Verbrechen vorschnell in der Rubrik „rechtsextrem“ ein.

Problematisch an dieser Sichtweise war nur, dass die später gefassten Täter aus Jordanien und Marokko stammten, die als Tatmotiv „Hass auf Israel“ angeben. Ihren Judenhass hatten sie nicht bei den bösen Deutschen durch das Blättern in alten Stürmer-Ausgaben, sondern in der Moschee gelernt – für den SPIEGEL waren es aber bis zum Beweis des Gegenteils rechtsextreme Straftaten gewesen, was sich etwa aus dem Artikel „Tango tanzen in Erfurt“ [12] ersehen lässt.

Für den Antisemitismus gibt es neben rechtsextremen Ideologien ein weiteres wichtiges Reservoir in Form des radikalen Islam. Bei fehlendem Nachweis einer derartigen Täterschaft werden die Straften allerdings automatisch dem Rechtsextremismus zugeschlagen – ein Faktor, der das Potenzial für Verzerrungen in sich birgt. Sogar innerhalb des linksextremen Spektrums gibt es mit den so genannten „Antiimperialisten“ gewaltbereite Täter, die antisemitische Delikte verüben.

Interessant wäre abschließend noch, ob in die von Frankfurter Rundschau und SPIEGEL Online atemlos aufgenommenen vorläufigen Zahlen zu rechtsextrem motivierten Gewalttaten auch Fälle wie dem des Mädchens aus Mittweida, das sich Ende 2007 selber ein Hakenkreuz einritzte, oder der brutale Angriff auf den Passauer Polizeidirektor Mannichl eingeflossen sind – beide Fälle wurden bzw. werden von der Presse, insbesondere auch vom SPIEGEL, in die Ecke rechtsextremer Gewalttaten geschoben.

Was zum Beispiel den Fall in Mittweida angeht, so kam SPIEGEL Online noch am mit der Schlagzeile: „Rechtsextremismus: Neonazis greifen Mädchen an“ [13]. Und am 9. Dezember 2007 berichtete SPIEGEL Online [14]: „Erst vor kurzem hatten Rechte im gleichen Ort einer Siebzehnjährigen ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt.“ Doch nur neun Tage später bringt SPIEGEL Online „Die dubiose Geschichte vom eingeritzten Hakenkreuz“ [15], wo es unter anderem heißt: „Nun gibt es erhebliche Zweifel an der Geschichte. Möglicherweise gab es gar keinen Überfall.“ Nun, in diesem Fall ist mittlerweile geklärt, dass hier keine rechten Trupps am Werk waren. Vielmehr hat sich das Mädchen nach Auffassung des Amtsgerichtes Hainichen [16] selbst ein Hakenkreuz in die Hüfte geritztiel, weshalb es zu im November 2008 wegen der Vortäuschung einer Straftt gerichtlich verurteilt.

Im Mannichl-Fall ist die Täterschaft noch völlig ungeklärt. Dabei scheint aber erneutes sozusagen selbst verursachtes Debakel für die deutsche Medienlandschaft durchaus nicht im Bereich des Unmöglichen [17]. Leider lässt sich der SPIEGEL hierzu nicht aus – Spiegel-Leser wissen eben nicht immer mehr.