Die Diffamierer von der Elbe – wie der SPIEGEL das Weltsozialforum faktenarm heruntermacht

  04. Februar 2009, von Christian Kliver

Der SPIEGEL-Online-Artikel „Die Selbstbetrüger vom Amazonas“ über das Weltsozialforum im brasilianischen Belém (siehe Screenshot) erinnert mich an meine Zeit als Tageszeitungsredakteur. Vor einigen Jahren kam in meiner ehemaligen Redaktion mal eine Mode auf. Hatte ein Autor einen besonders polemischen Artikel geschrieben, der an Fakten arm oder gar faktenfrei war, dann hieß es: „Der hat ja mal wieder geSPONt“ – in Bezug auf das Akronym von SPIEGEL Online.

Der Autor, Jens Glüsing, macht diesem Urteil alle Ehre. Das typische Manko an dem Artikel ist nämlich nicht nur, dass er faktenarm ist und dabei kaum über das Weltsozialforum, das am 1. Februar zu Ende gegangen ist, informiert, sondern letztlich die ganze Veranstaltung süffisant ins Lächerliche zieht.

SPIEGEL Online würdigt die gesamte Veranstaltung unbegründet pauschal herab
Dies drückt sich nicht nur in der beleidigenden Überschrift „Die Selbstbetrüger vom Amazonas“ aus. Überhaupt erfährt man aus dem Beitrag lediglich, dass ein offensichtlich schlecht vorbereiteter Journalist auf einem Campus umherirrt und daraus schlussfolgert, dass das Weltsozialforum „choatisch“ und „anarchisch“ sei, womit die gesamte Veranstaltung herabgewürdigt wird. Die beiden Adjektive mit der negativen Konnotation bekommen dabei ein besonderes Gewicht, da sie gleich zu Beginn des Vorspanns Erwähnung finden. Harte Fakten, die es rechfertigen würden, den alternativen Gipfel als PRIMÄR oder IM WESENTLICHEN „chaotisch“ und „anarchisch“ abzustempeln, liefert der Artikel aber nicht.

Eine weitere zentrale Behauptung des Schreibers ist, dass „die geladenen Ureinwohner nur Statisten“ seien auf dem Weltsozialforum. Doch weder liefert der SPIEGEL-Online-Beitrag verlässliche Belege für diese These, noch erscheint sie glaubhaft, wenn man bedenkt, dass aus zahlreichen Berichten hervorgeht, dass gerade dieses Forum ausdrücklich der Situation des Amazonas und der Ureinwohner gewidmet war. Der zweite Tag des Forums befasste sich sogar ausschließlich mit diesen Themen.

Desweiteren versucht Autor Jens Glüsing zu suggerieren, dass es auf dem Forum keine Kritik „am autoritären Charakter der linken Regierungen“ in Südamerika gegeben hätte. Doch auch diese steile These scheint nicht nur unglaubhaft, auch liefert der Beitrag für sie keinerlei handfesten Beweise – war es Glüsing sicher auch nur möglich, einen Bruchteil aller Veranstaltungen auf der großen Konferenz zu besuchen.

Der Autor übersieht den Einfluss des „Imperiums der Schande“
Natürlich kann man den Regierungen in Venezuela, Brasilien, Ecuador oder Nicaragua kritisch gegenüber stehen, doch es ist der eklatante Mangel an Informationen über die Hintergründe, der den Beitrag so undifferenziert macht. Denn einfach nur zu behaupten, diese Regierungen würden „unliebsame Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen an die Leine legen“ und den „freien Gedankenaustausch“ unterdrücken, ist so pauschal, dass es den Fakten alles andere als gerecht wird.

Wie komplex das Problem etwa in Brasilien ist, schildert der UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler eindrucksvoll in seinem Buch „Das Imperium der Schande“, mit dem er das Konglomerat aus multinationalen Konzernen, Politikern, Internationalem Währungsfonds IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation WTO bezeichnet. Dieses Konglomerat hat entscheidend dazu beigetragen, dass Brasilien eine ungeheure Schuldenlast trägt, die dem Land kaum Handlungsspielraum bietet und vor allem auch erheblich dazu beiträgt, dass Brasiliens Amazonas-Regenwälder in Rekordtempo abgezolt werden. Und auch sind es ja die gigantischen Sojafelder, denen der Regenwald weichen muss – und dieses Soja wird zum Großteil als Kraftfutter für die weltweite Massentierhaltung vor allem auch in europäischen und anderen Industrieländern verwendet.

Die Kräfte, die hier am Werk sind und verhindern, dass Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen nicht so erfolgreich wirken können wie es notwendig wäre, gehen also weit über Brasilien bzw. Lateinamerika hinaus.

Wie undifferenziert der SPIEGEL-Online-Beitrag vorgeht, zeigt sich zudem daran, dass wir von dem venezolanischen Staatschef Hugo Chávez gerade einmal einen (Halb-)Satz lesen: „Die andere Welt existiert bereits“. Diesen Satz „sagt“ Chávez natürlich nicht, er „tönt“ ihn. Sein ecuadorianischer Amtskollege Rafael Correa „beschreibt“ nicht etwa einen „magischen Moment“, den er in Belém zu spüren vermeint, sondern er „schwärmt“. Für SPIEGEL Online steht damit fest: „Die ‚Neue Welt’ von Belém gehört weitgehend den Revolutionsromantikern der alten Linken.“

Glüsings Verallgemeinerungen sind weder empirisch fundiert noch plausibel
„G’spinnert sans halt“, würde man nun an einem zünftigen deutschen Stammtisch „tönen“, auf die irren Wilden dort in Südamerika anstoßen und einen tiefen Zug nehmen. Aber SPIEGEL Online ist kein Stammtisch, sondern eines der meistgelesenen Onlineportale. Es bildet Meinung – und das vor allem gegen die anti-neoliberale Linke in Lateinamerika. Da mögen Exzentriker dabei sein, aber alle in einen Topf mit dem Etikett „linke Spinner“ zu schmeißen, wie es SPIEGEL Online tut, wird der Sache sicher nicht gerecht – und aus dem Beitrag geht auch nicht hervor, dass ein solches Vorgehen legitim wäre.

Kritisch zu sehen ist auch, dass SPIEGEL Online von einem „angeblich“ regierungsunabhängigen Weltsozialforum spricht. Nun, in der Tat will das Weltsozialforum regierungsunabhängig sein, was ein hoher Anspruch ist. Und so gibt es traditionell eine Kontroverse zur Kooperation mit Staatsführungen und auch dazu, ob Regierungsvertreter im Rahmen des Forums auftreten. In der Abschlusserklärung 2003 hieß es dazu: „Wir wollen nun einen Referenzpunkt schaffen… Das erfordert die aktive Teilhabe aller Bewegungen, die – entsprechend der Charta von Prinzipien des Weltsozialforums – unabhängig von den Regierungen und von den politischen Parteien sind.“

Deswegen sind die Präsidenten in diesem Jahr auch nicht auf dem Forum, sondern bei einer Veranstaltung am Rande aufgetreten. Ob man dieser Unterscheidung nun folgt, ist eine Willensfrage. Auch erhalten solche Foren in links regierten Staaten auch eine gewisse Unterstützung, vor allem logistischer Art. Die These, das Weltsozialforum sei „angeblich regierungsunabhängig“ impliziert aber eine Abhängigkeit, die es nicht gibt – und zumindest legt der Artikel nicht annähernd plausibel dar, dass eine solche Abhängigkeit tatsächlich existiert. Glüsings Verallgemeinerungen sind also weder empirisch fundiert noch plausibel – oder soll man wirklich glauben, dass zu diesem Forum keine Menschen gekommen sind, die sich ernsthaft um die Zukunft unserer Welt sorgen?

Die Verwendung des Begriffs „Indio“ zeugt nicht von Sensibilität
All dies lässt darauf schließen, dass der Autor das Weltsozialforum im Stil einer Klatschkolumne ins Lächerliche zieht, weil er ein grundlegendes Desinteresse am Gipfel hat.

Anmerkung  zum Schluss: In dem Artikel wird von „Indios“ gesprochen. Doch der Begriff „Indio“ hat im Grunde eine abfällige Konnotation – vergleichbar mit dem Terminus „Neger“. In der Umgangssprache gibt es sogar die höchst unsensible Beschimpfung „no seas indio“, was so viel heißt wie „sei  nicht so dumm“.  Wer also sensibel genug ist, spricht – nicht zuletzt in Anbetracht der ungeheuren Greuel, die den Urweinwohnern widerfahren sind – von „Indigenen“, „Indígenas“ oder „Nachkommen der Ureinwohner“, oder – wenn man es intellektueller will – „autochthon“. Und man darf doch annehmen, dass ein Autor, der sich nicht nur als kundiger Journalist präsentiert, sondern sogar vor Ort lebt, dies hätte wissen müssen.

Christian Kliver schreibt für www.amerika21.de

 

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