SPIEGEL Online lässt beim Thema Gaza-Krieg Sensibilität und Ausgewogenheit vermissen

  19. Januar 2009, von Sven Buechler

Die Wahrheit geht in Kriegen bekanntermaßen als erstes unter – und auch die Medien können sie gerade heutzutage oft nur schwer an die Oberfläche holen. Um so mehr sind hier Ausgewogenheit und Sensibilität (insbesonders in Bezug auf die Wortwahl) gefragt – zwei Dinge, die die Nahost-Berichterstattung von SPIEGEL Online zuweilen vermissen lässt, etwa in dem Artikel „Psychotricks demoralisieren den Gegner“ vom 15. Januar, in dem es um Propagandastrategien von Israelis und der Hamas geht (siehe Screenshot).

Um dies nachvollziehen zu können, lohnt es, die Kriegshistorie der vergangenen Monate noch einmal kurz Revue passieren zu lassen:

Im Juni 2008 war zwischen Israelis und der Hamas eine Waffenruhe vereinbart worden, von der jedoch in erster Linie die israelischen Anwohner im Grenzgebiet profitierten. Dagegen hofften die Menschen im Gazastreifen vergeblich auf eine Öffnung der Grenzen oder, wie es der ARD-Korrespondent Clemens Verenkotte formulierte, „auf ein Ende des eingesperrten Daseins in einem Freiluft-Gefängnis“. Als Anfang November 2008 die israelische Armee – in der Nacht der amerikanischen Präsidentschaftswahlen – mit der Tötung von mehreren Hamas-Milizionären im Gazastreifen gegen die Waffenruhe verstieß, nahm die Hamas ihren Raketenbeschuss wieder auf. „Einen Monat lang ließ Israels Regierung dann nichts mehr in den Gazastreifen hinein – ohne dass die internationale Gemeinschaft gegen diese völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung auch nur einmal die Stimme erhoben hätte“, so Verenkotte.

Zahl der Raktenangriffe auf Israel gehen während des Waffenstillstands (Mitte Juni - Okt. 2008) drastisch zurück; Quelle: http://alles-schallundrauch.blogspot.com

SPIEGEL Online gibt Falschmeldung der Israelis weiter
Auch SPIEGEL Online scheint sich nicht für diese „völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung“ durch die Israelis interessiert zu haben. Jedenfalls findet man auf SPIEGEL Online darüber nichts, wenn man für den Zeitraum November 2008 nach dem Begriff „Gaza“ sucht. Lediglich erhält man als Suchtreffer eine kurze Meldung vom 5. November, in der SPIEGEL Online darüber berichtet, dass vier Palästinenser durch einen israelischen Luftangriff ums Leben gekommen seien, wobei nicht nur ziemlich einseitig die Position der israelischen Regierung dargelegt wird, die ihre „Militäraktion mit dem fortwährenden Beschuss militanter Palästinenser rechtfertigte“ – auch ist die von SPIEGEL Online widergegebene Rechtfertigung offenbar eine Lüge.

So bestätigte Mark Regev, Sprecher für die israelische Regierung, in einem TV-Interview, dass während des Waffenstillstandes in den etwas mehr als vier Monaten davor keine Raketen der Hamas auf Israel abgefeuert worden waren und dass in dieser Zeit auch kein Israeli durch Raketen getötet worden war (siehe Screenshot). Die ganz wenigen Raketen, die noch kamen, waren nicht von der Hamas, sondern von Einzeltätern, wie Israel selber bestätigte. Erst als eine israelische Spezialeinheit in der Nacht vom 4. auf den 5. November 2008 nach Gaza eindrang und sechs Hamas-Kämpfer ermordete, begann die Hamas wieder mit Raketenabschüssen.

Am 26. Dezember rief Israel dann auf scheinheilige Weise einseitig eine 48-stündige Waffenruhe aus. Scheinheilig deshalb, weil offenbar von Anfang an klar war, dass man die Waffenruhe bereits nach 24 Stunden wieder zu brechen gedachte, um sogleich mit 60 Kampfjets Angriffe auf die Hamas zu fliegen – was dann auch geschah. Dass die Hamas davon „nichts ahnte“, ist in dem eingangs erwähnten SPIEGEL-Online-Beitrag „Psychotricks demoralisieren den Gegner“ auch zu lesen. Kritikwürdig ist jedoch die darin vorgenommene semantische Einordnung der israelischen Vorgehensweise.

Denn diese Vorgehensweise kann ja durchaus – sachlich formuliert – als Bruch des Völkerrechts eingestuft werden, nicht zuletzt, weil unter den Opfern zahlreiche nicht direkt an den Auseinandersetzungen beteiligte Personen waren. So gab es allein am 27. Dezember auf palästinensischer Seite, wie etwa Le Monde diplomatique schreibt, „besonders viele Opfer: über 270 Tote und hunderte Verletzte. Die meisten waren Polizeischüler, die ihre Diplome entgegennehmen wollten – also nicht etwa gefährliche Terroristen.“

SPIEGEL Online beschönigt Bombardements der Israelis

Aus dem Artikel auf SPIEGEL Online geht dies aber nicht so hervor. Man muss in seiner Kritik vielleicht nicht gleich so harsch werden wie der Nemeticos Politblog, doch wenn der SPIEGEL-Online-Artikel im Zusammenhang mit den israelischen Bombardements von einem „Psychotrick“ redet und von der „wohl gelungensten Desinformationskampagne“, so kann man dies sicher nur als Beschönigung bezeichnen. Bei der Hamas hingegen scheut SPIEGEL Online nicht davor zurück, so richtig abfällig zu werden und etwa Äußerungen der Hamas als „Großmäuligkeit“ auszumalen – was durchaus gerechtfertigt sein mag, doch vermisst man hier Begriffe wie „großmäulig“ oder „militant“ oder „Terror“ im Zusammenhang mit den Israelis.

Problematisch ist zudem, dass SPIEGEL Online, ohne dass wir Näheres über die Hintergründe des Konflikts erfahren, in seinem „Psychotricks“-Beitrag davon redet, dass zu der Zeit, als Israel die scheinheilige 48-stündige Waffenruhe ausrief, „ein Krieg zwischen Israel und der Hamas fast unvermeidlich schien“. Problematisch ist diese Darstellung deshalb, weil das Auslassen der Hintergründe in Verbindung mit den zuvor wertenden Formulierungen suggeriert, dass Israel der Krieg mehr oder minder aufgezwungen worden sei – was man aber in Anbetracht der skizzierten Aggressivität, mit der Israel zu Werke ging, sicher nicht so ohne Weiteres sagen kann.

Zumal man in diesem Zusammenhang auch noch anführen könnte, dass die israelische Luftwaffe bei ihren Bombardements Ende Dezember neuartige Raketen vom Typ GBU-39 verwendete – Raketen, die Israel bereits im September von den USA gekauft hatte, wie etwa die Jerusalem Post berichtete.  Dies könnte zumindest ein Hinweis darauf sein, dass Israel seine Angriffe schon seit längerer Zeit geplant hatte…

 

5 Kommentare zu “SPIEGEL Online lässt beim Thema Gaza-Krieg Sensibilität und Ausgewogenheit vermissen”

  1. Jürgen Behm sagt:

    Ich bin platt. Die Kritik von SPIEGELblog an „DER SPIEGEL“ richtet sich ja bei weitem nicht allein an diesen, sondern an den ganzen medialen Mainstream. Demnach hat also der israelische Staat, nein besser gesagt haben dessen Machthaber, eindeutig diesen Waffenstillstand gebrochen. Oder, da frage ich hier beim SPIEGELblog lieber noch einmal nach, wurden die Hamasmitglieder erst nach dem Ende des Waffenstillstandes ermordet, der ja befristet war? Insofern hätte der israelische Staat formal gesehen den Waffenstillstand nicht gebrochen.

    Aber selbst wenn es so gewesen wäre, nach der die Hamas einseitig die Nichtfortsetzung des vereinbarten Waffenstillstand proklamiert hätten (einmal wurde sogar im öffentl.-rechtl. Rundfunk behauptet, die Hamas hätten ihn gebrochen) und den Raketenbeschuss Israels einseitig von sich aus wieder begonnen hätte: Terror mit vielfach schlimmeren, in diesem Falle israelischen Staatsterror zu bekämpfen, in dem man 1, 5 Mio. Menschen innerhalb eines Freiluftgefängnisses in der Größe des Staatstaates Bremen schutzlos den Granaten und Bombardierungen einer hochgerüsteten Armee aussetzt, und die nicht einmal aus besagtem Gefängnis fliehen können, ist eine der perfiden Strategien der Mächtigen, mit der sie sich die Terroristen heranziehen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Das ist dann die Begründung für Staat, Herrschaft und für ihre Macht, die notwendig sind, die Bestie Menschen in Zaum zu halten und sie zu entmündigen. Das gehört zu den alten Maximen von „Teile und Herrsche“, letztlich zu den Maximen von Macht, auch über Berge von Leichen hinweg – nicht nur in Israel, sondern überall.

    In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Hamas ein Ziehkind israelischer Regierungen war, was man sogar vor kurzem im Deutschlandfunk vernehmen konnte (sieh da, sieh da!). Die Taliban in Afghanistan waren auch einmal Ziehkind der US-Regierungen.

  2. STOP-RFID sagt:

    Das die deutsche Mainstream Presse für Israel gleichgeschaltet wurde, dürfte mittlerweile wohl auch dem letzten aufgefallen sein. Es stellt sich mir immer wieder die Frage, wer die Hamas eigentlich aufgebaut und kontrolliert hat bzw. bis heute noch kontrolliert?
    Einiges deutet drauf hin, dass die Hamas von Israel und den USA selbst aufgebaut wurde. Doch warum sollte sie das tun? die Antwort ist recht einfach: Problem-Reaktion-Lösung

    http://www.focus.de/politik/ausland/nahost/gazastreifen_aid_263952.html

  3. SPIEGELblog sagt:

    Hallo Herr Behm,

    vielen Dank für Ihren Kommentar und die damit verbundene Frage, die da lautet:

    “Demnach hat also der israelische Staat, nein besser gesagt haben dessen Machthaber, eindeutig diesen Waffenstillstand gebrochen – oder… wurden die Hamasmitglieder erst nach dem Ende des Waffenstillstandes ermordet, der ja befristet war?”

    Dazu ist zu sagen, dass die israelischen Machthaber offenbar tatsächlich diesen Waffenstillstand, der ja vom 19. Juni bis zum 19. Dezember 2008 währen sollte, Anfang November 2008 gebrochen haben. Dies schildert nicht nur der erwähnte ARD-Korrespondent Verenkotte auf tagesschau.de, sondern etwa auch Amnesty International USA, siehe http://www.amnestyusa.org/document.php?id=ENGMDE150452008, die Zeitung The Guardian, siehe http://www.guardian.co.uk/world/2008/nov/05/israelandthepalestinians, antiwar.com, siehe http://news.antiwar.com/2008/11/05/is-the-gaza-ceasefire-over oder auch die Zeitung Neues Deutschland, siehe http://www.neues-deutschland.de/artikel/141315.gespannte-ruhe-in-israel.html.

    Dieser Waffenstillstand sollte ja vereinbarungsgemäß ein halbes Jahr gelten, und zwar vom 19. Juni bis zum 19. Dezember, sprich er galt eigentlich auch noch bei der Ermordung der Hamasmitglieder durch Israelis Anfang November.

    Diese Daten nennt auch SPIEGEL Online selbst, und zwar in einem Artikel vom 18.12.2008: “Es ist Donnerstagmorgen, keine 24 Stunden mehr, dann wird die zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas im Gaza-Streifen geschlossene Waffenruhe zu Ende gehen“, siehe http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,597412,00.html.

    Die Darstellung des Kriegsausbruchs ist in diesem Artikel freilich bemerkenswert. Obwohl SPIEGEL Online selbst schreibt, dass der Waffenstillstand erst am nächsten Tag (19. Dezember) enden sollte,
    und obwohl SPIEGEL Online selbst über den israelischen Angriff Anfang November berichtet hat, der die Wiederaufnahme des Raketen-Beschusses zur Folge hatte, werden darin praktisch die Palästinenser als diejenigen hingestellt, die die Waffenruhe Anfang November als erste unterbrochen haben:

    „Der Waffenstillstand von Gaza: Sechs Monaten [sic!] sollte er dauern, doch bereits seit Wochen bestand er nur noch auf dem Papier. Seit Anfang November schicken radikale Palästinenser wieder Raketen nach Israel, vor
    allem ins Grenzstädtchen Sderot. Die israelische Luftwaffe wiederum
    bombardiert Ziele im Gaza-Streifen.”

    Es fehlt also der wichtige Schritt, dass es offenbar Israel war, das Anfang November als erste wieder losfeurten.

    Bemerkenswert ist zudem, dass dieser Artikel von SPIEGEL Online vom 18.12.08 die Überschrift trägt “Hamas kehrt zum Raketenterror zurück” – SPIEGEL Online Israel jedoch nicht den Begriff “Raketenterror” zuordnet.

    Jedenfalls ist es so: Wenn man bei Google die Suchbegriffe “Raketenterror Spiegel” eingibt, so erhält man zwei Artikel-Treffer – den Artikel vom 18.12. und einen weiteren vom 9.12, in dem der Begriff “Raketen-Terror” sogar die Dachzeile des Beitrags bildet. Und auch in diesem Artikel vom 9.12. wird der Begriff “Raketenterror” nur auf die Hamas-Angriffe bezogen.

    Die Angriffe der Hamas mit Terror zu bezeichnen, ist sicher legitim, doch es ist eben die angesprochene Einseitigkeit, die aufstößt. Denn die Angriffe Israels stellen mindestens genau so einen Raketen-Terror dar.

    Und leider, Herr Behm, haben Sie auch damit völlig Recht: Wohl große Teile des medialen Mainstreams berichten so verzerrt!

    SPIEGELblog-Team

  4. Kaiohan sagt:

    Danke für den Beitrag, muss ich (leider) recht geben.

    Das wir uns immer noch kein einziges böses Wort gegen Israel oder die Juden im Allgemeinen in Deutschland erlauben, ist einfach armselig. Die Politik soll sich endlich mal darüber erheben und nicht Angst vor dem Zentralrat der Juden haben, der nichts anderes zu tun hat, als uns mit dem Schuldbewusstsein zu erdrücken. Der Weg der USA über Vietnam, Korea etc. gar kein Schuldempfinden zu haben, ist zwar auch nicht der richtige, aber die richtige Richtung – der Mittelweg machts aus.

    Jedenfalls ist mir die einseitig ebenfalls aufgefallen, darum bin ich auch sehr froh darüber einen SPIEGELblog entdeckt zu haben, in dem diese angesprochen wird.

    Gibt es eigentlich offizielle Reaktionen vom SPIEGEL auf diesen Blog bzw. einzelne Beiträge? Das wäre mal interessant.

    Gruß

  5. Tindomerel sagt:

    @Kaiohan: Das schlimme ist ja, dass man nichts gegen den Zionismus (was mMn eine absolut faschistische Ideologie ist) sagen darf, ohne dass man gleich als Antisemit beschimpft wird – dabei hat Zionismus an und für sich sehr wenig mit dem orthodoxen Judentum zu tun. Oder anders gesagt: Wenn man den Isaelis Völkermord und andere Kriegsverbrechen vorwirft, ist man ein Nazi, der den Holocaust leugnet und am liebsten wieder im Braunhemd rumlaufen würde.
    Armes Deutschland.
    Und ich gebe dir vollkommen recht: Klar ist es furchtbar, was den juden im dritten Reich angetan wurde, und dieses Verbrechen darf nicht vergessen werden. Aber irgendwann muss man auch aufhören dürfen, um Verzeihung zu bitten. Alles Geld der Welt macht tote Angehörige nicht wieder lebendig und Verbrechen nicht ungeschehen. Die meisten Deutschen waren doch noch nicht mal geboren, als Hitler Reichskanzler wurde – also, irgendwann ist auch mal gut.
    lieben Gruß

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