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Wie der SPIEGEL Deutschlands Politik gegen Piraten aus Somalia „zahm“ redet – und die EU-Piraterie de facto ausblendet

Die Piraterie vor der somalischen Küste ist wahrlich keine Sache, die man bedingungslos beschönigen oder gar gutheißen muss. Doch es geht an den Fakten vorbei, wenn man, wie der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe in dem Essay „Wir Piraten“ (siehe Ausriss), das Phänomen der modernen Seeräuberei wie Jolly Roger, also die Piratenfahne mit dem Totenkopf drauf, schwarz-weiß malt. Der Beitrag beschreibt den „romantischen Piratenmythos“ zwar in einer ausgeschmückten Sprache, doch er greift zu kurz, weil er nur die somalischen Freibeuter als die „echten Piraten“ hinstellt und zugleich die „deutsche Demokratie“ ob ihres Kampfes gegen diese Piraten über den Klee lobt. [1] Dabei wird nämlich vergessen, dass auch die Europäische Union – und mit ihr die deutsche Demokratie – im Zusammenhang mit der Industriefischerei im großen Stil in Piraterie verstrickt ist. So flaggen immer mehr Betreiber aus den großen Fangnationen USA, Japan und eben der EU ihre Fangschiffe aus und lassen sie unter einer so genannten Billigflagge registrieren – wobei die eigentlichen Eigentümer nicht selten in den Ländern der EU, in den USA oder in Japan sitzen. Greenpeace hat für diese Art von Fischerei, die auf den Weltmeeren rücksichtslos Fischgrund um Fischgrund plündert, explizit den Begriff „Piratenfischerei“ [2] geprägt.

Der Autor des SPIEGEL-Beitrags, Dirk Kurbjuweit, geht zwar kurz auf das Elend der somalischen Bevölkerung ein. Doch so recht will er den von den Freibeutern angeführten Grund für die Piraterie – nämlich die, wie Kurbjuweit mit einem ironischen Unterton schreibt, „bösen Supermächte und Asiaten, die den armen Fischern alles weggefischt haben“ – nicht an sich heranlassen; meint er doch nur: „Der Pirat von heute SIEHT SICH als Arbeitgeber einer verarmten Küstenbevölkerung.“ Die somalischen Piraten würden daher, so Kurbjuweit weiter, solange „in Deutschland als böse gelten“, bis eine „internationale PR-Agentur“ kommt und ihr Image ins Gute wendet. Letztlich obsiegt bei Kurbjuweit die Einteilung in Gut und Böse, und das Gute ist für ihn die „deutsche Demokratie, die in ihrer unheroischen Umständlichkeit genau das Richtige will“, nämlich die somalischen „Piraten bekämpfen“.

Steinmeier&Co. üben sich im militarisierten Kampf gegen somalische Piraten – und nicht in „Zähmung“, wie der SPIEGEL schreibt
Nun, Kurbjuweits Vertrauen in die deutsche Demokratie und Politiker und deren, wie er auch meint, „Geschichte vom klugen Innehalten“ in allen Ehren, aber so einfach ist es dann letztlich doch nicht. So unterstützt, wie der SPIEGEL selber vor kurzem meldete [3], die Bundeswehr als Teil der deutschen Demokratie den Plan, „mit aller Macht gegen die Freibeuter“ vorzugehen und „im Kampf gegen die Piraten vor Somalia eine gigantische Armada von 500 Kriegsschiffen“ einzusetzen – was nicht gerade Ausweis ist für ein „Innehalten“ oder, wie Kurbjuweit die deutsche Demokratie auch beschreibt, für „Zähmung, nicht Entfesselung“ (und bei der erwähnten Politik von Deutschland und der EU in Sachen Industrie- bzw. Piratenfischerei kann man erst recht nicht von „Zähmung“ sprechen).

Außenminister Steinmeier wiederum, auch ein wichtiger Vertreter der deutschen Demokratie, bestätigte in einem Interview mit der FAS [4], dass er wegen „der immer größeren Dreistigkeit“ der Piraten vor der Küste Somalias „dringendes Handeln“ geboten sehe. Doch nicht nur ist auch in den Worten Steinmeiers wenig von einem „Innehalten“ oder von „Zähmung“ zu spüren. Auch ist die Einäugigkeit, mit der der SPD-Politiker hier verbal vorprescht, frappierend – und es darf bezweifelt werden, dass sie einer Lösung für das Piratenproblem am Horn von Afrika dienlich sein kann, die auch das somalische Volk wirklich mit einbezieht.

EED beklagt Vorrang militärischen Denkens in der deutschen Somalia-Politik
Daher übt zum Beispiel auch der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) harsche Kritik am Kampfeinsatz der Bundesmarine vor Somalia [5]. Grund: „Die EU-Fischereipolitik ist mit schuld an Piraterie“, so Wolfgang Heinrich, EED-Experte für das Horn von Afrika. „Die Debatte über die Reaktion auf die Piraterie am Horn von Afrika in Deutschland ist leider wieder ein Ausdruck des militarisierten Denkens und Handelns deutscher Politiker… Anstatt sich mit den wirtschaftlichen und politischen Ursachen der Piraterie zu befassen, geht es ausschließlich um die militärische Absicherung deutscher und europäischer Wirtschaftsinteressen.“

Kurbjuweit lässt das Phänomen EU-Piraterie außen vor
Um zu Erkenntnissen wie die des EED zu kommen, bedarf es freilich keines Inputs einer in dem SPIEGEL-Essay erwähnten „internationalen PR-Agentur“, sondern lediglich ein wenig journalistischer Recherche – oder einfach eines Blicks in das Satiremagazin Titanic. In dessen aktueller Ausgabe heißt es in einem „Brief an die Leser“ [6] trefflich, dass Steinmeier in seinem FAS-Interview – genau wie Dirk Kurbjuweit in seinem SPIEGEL-Beitrag – nämlich „nichts von der immer größere Dreistigkeit, mit der Piraten unter der Flagge von beispielsweise Belize, Honduras und Panama die Küsten Afrikas leerfischen, sagte. Wie auch nichts davon, dass die meisten Besitzer solcher Billigflaggen-Kutter seelenruhig und unbehelligt in Spanien leben; dass die EU jährlich geschätzte 500.000 Tonnen illegal gefangenen Fisch im Wert von mehr als einer Milliarde Euro importiert; dass afrikanische Küstenstaaten zwar 200 Seemeilen vor ihrer Küste ausschließlich selbst Fische fangen dürfen, dass sie das aber wg. Armut nicht kontrollieren können; dass die Netze der Einheimischen deshalb leer bleiben… Rund 100 Millionen Euro sollen somalische Piraten 2008 erpresst haben; verglichen mit der Milliarde EU-Importe durch Fischfangseeräuberei nicht beunruhigend viel, was, Steinmeier, alte Seerübe?“

Herr Kurbjuweit soll hier nun nicht auch als „alte Seerübe“ bezeichnet werden, aber es sei die Anmerkung gestattet, dass die skizzierten Fakten verstärkt dazu Anlass geben, die eng gefasste Definition des Begriffs „Pirat“ wenigstens einmal zu überdenken und sich zu fragen, ob wirklich nur in Somalia oder nicht etwa auch in der EU „echte Piraten“ zuhause sind, die es zu bekämpfen gilt – am besten natürlich mit nicht-militärischen Mitteln.

Es darf also daran gezweifelt werden, dass die „deutsche Demokratie“, wie Kurbjuweit meint, wirklich „das Richtige“ tut, wenn sie nur die „echten Piraten“ in Somalia vehement bekämpft, die Piraten in der EU, die sich auf den Weltmeeren genau wie hinter Schreibtischen tummeln, aber außer Acht lässt.

Sicher nicht in allen Deutschen schlummert ein heimlicher Seeräuber
Genau so darf daran gezweifelt werden, dass, wie Kurbjuweit verallgemeinernd schreibt, in uns Deutschen „ein Seeräuber“ steckt, ja ein besonders „wilder Pirat“ – und dass wir alle darob genervt sind, „auf unseren Sofas und vor unseren Fernsehern“ sitzen zu müssen, weil wir ja, „wenn wir könnten, wie wir wollten, nicht lange fackeln“ und mit erhobener Waffe am Horn von Afrika gegen „die somalischen Piraten“ in den Seekrieg ziehen würden. Für Herrn Kurbjuweit und manch anderen (männlichen) Deutschen mag dies gelten, doch es gibt sicher auch viele Deutsche, die nicht den Wunsch hegen, als Pirat gegen Piraten zu kämpfen, sondern vielmehr ihre Wut auf die Politiker in Deutschland und der EU konzentrieren, weil diese sich, wie nicht nur vom EED beklagt, wieder zunehmend einem militarisierten Denken und Handeln hingeben anstatt sich mit den wirtschaftlichen und politischen Ursachen der Piraterie zu befassen.

Steinmeier hofieren und Steinmeier kritisieren – beides geht natürlich nicht
Aber klar, wenn der SPIEGEL weiter vorne in seiner aktuellen Ausgabe auf zwei Seiten einen offenen Brief von Außenminister Steinmeier an Barack Obama abdruckt, kann man natürlich schlecht weiter hinten im Heft Steinmeiers Piraten-Politik bzw. die auch von der Bundesregierung und damit auch von Steinmeier getragene EU-Fischereipolitik bzw. EU-Piraterie auseinanderpflücken. Vielleicht täte der SPIEGEL doch besser daran, Spitzenpolitiker wie Steinmeier oder Ex-Kanzler Schröder nicht zu hofieren, indem man ihnen redaktionelle Plattformen für ihr Politikergesäusel darbietet.