Sensationshascherei: Wie beim Fall Mannichl verdreht der SPIEGEL auch beim Amoklauf von Tim K. die Fakten
Samstag, 14. März 2009„Außer der London Times hat uns niemand kontaktiert und um Informationen gebeten.“
Forum Krautchan.net
Erinnern wir uns: Als Mitte Dezember 2008 das Gerücht de facto als Tatsache verbreitet wurde, dass der Passauer Polizeichef Mannichl von einem Rechtsextremen niedergestochen worden sei (obwohl dies immer noch nicht bewiesen ist), war SPIEGEL Online an vorderster Front dabei. Dabei war die Redaktion so auf den Blick nach rechts fixiert, dass man sich auch zu der Falschaussage verstieg, es gebe ein Phantombild des Mannichl-Attentäters – obwohl ein solches Phantombild gar nicht existierte (SPIEGELblog berichtete). Später, am 19. Januar, als klar war, dass nicht zwingend ein Nazi als Mannichl-Attentäter in Frage kommt, schob der SPIEGEL dann in seinem Artikel „Blick nach rechts“ praktisch die ganze Schuld der Polizei dafür in die Schuhe, „dass der Fall Mannichl überhaupt erst zum Gegenstand eines wilden öffentlichen Rätselratens werden konnte“ – anstatt sich auch selber mal an die Nase zu fassen und sich zu fragen, ob man hier nicht Sensationshascherei betrieben und dadurch seinen Lesern vorschnell unbewiesene Behauptungen als angebliche Tatsachen präsentiert hat.
Auch nach heftigen Dementis des Forums Krautchan.net bringt SPIEGEL Online noch die News-Ente
Wie sinnvoll eine kritische Selbstreflexion gewesen wäre, zeigt sich, wenn man bedenkt, dass SPIEGEL Online nun denselben Fehler begangen hat, indem man die vermutliche News-Ente mit der angeblichen Ankündigung des Amoklaufs von Tim K. als Tatsache dargestellt hat. Und selbst nachdem das Forum Krautchan.net, das als Quelle dieser Ankündigung genannt wurde, bereits heftig dementierte hatte, blieb der SPIEGEL bei der Darstellung, der Forumsbeitrag sei echt. Zudem hat die Hamburger Redaktion auch noch nach diesen Dementis eine reißerische Schlagzeile mit einem angeblichen Zitat von Tim K. gebracht: „Ich werde morgen früh mal so richtig gepflegt grillen“ (siehe ersten Screenshot). Ob der Beitrag nun gefälscht ist oder nicht: Der SPIEGEL agierte hier in keinster Weise abwägend und mit der notwendigen journalistischen Vorsicht bzw. Sorgfaltspflicht. Bezeichnenderweise hat die Redaktion den Artikel auch zurückgezogen bzw. korrigiert.
SPIEGEL Online schiebt die Schuld für die News-Panne auf staatliche Stellen – ohne sich selbst mal an die Nase zu fassen
SPIEGEL Online gelang es auch nicht, zwischen Forum (Krautchan) und Chat zu unterscheiden. Und so war das Nachrichtenmagazin offenbar außerstande, die Quellen korrekt zu evaluieren.
SPIEGEL Online gelang es dabei nicht einmal, das Krautchan-Dementi als potenziell ernst darzustellen. Vielmehr schrieb man: „Im [Krautchan.net-]Forum selbst war man lange der Meinung, es handele sich um eine Fälschung – in mehreren Threads amüsierten sich Teilnehmer über die angebliche Dämlichkeit der Massenmedien“ (siehe zweiten Screenshot).
Doch selbst als sich der Beitrag als offenbare Ente entpuppte, wollte man bei SPIEGEL Online in keiner Weise über die eigene Dämlichkeit nachdenken, sondern lastete einfach dem Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech, die Schuld für den Schlamassel an. „Offensichtlich war man so glücklich über den vermeintlichen Coup, dass darüber alle ermittlerische Sorgfalt vergessen wurde,“ lesen wir auf SPIEGEL Online. Doch wer, wie die SPIEGEL-Online-Redakton, die Forums-Dementis von Krautchan ignoriert und dazu noch zu einem späten Zeitpunkt eine Artikel-Schlagzeile mit einem Zitat aus dem vermeintlichen Thread bestückt, der hat mindestens in gleicher Weise die ermittlerische Sorgfaltspflicht vergessen lassen. Zumal sich die SPIEGEL-Redaktion ja so sehr ob ihrer Investigativität rühmt – doch wo war sie hier? (mehr …)