Archiv für November 2011

Zwickauer Terrorzelle: Wie der SPIEGEL den Verdacht, der Staat könnte in die Taten verstrickt sein, zu Unrecht ins Lächerliche zieht

Freitag, 18. November 2011

„Es gibt noch viel zu wenig Ermittlungsverfahren gegen lokale Unterstützernetzwerke des NSU und V-Leute des Verfassungsschutzes. Es fehlen vollständig die Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden. Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit, sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müssten. Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen.“
Angelika Lex, Anwältin der Opfer-Familie Boulgarides und gewählte bayerische Verfassungsrichterin, bei einer Zwischenkundgebung vor dem Gericht, junge Welt, 15. April 2013

(Eine Übersicht von V-Männern als Staatsanteil im Netzwerk der Terrorgruppe NSU findet sich hier)

„Die Zwickauer Terrorzelle hatte offenbar Kontakt zu einem V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Sollte sich das bestätigen, könnte nun auch das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz in die Affäre um die Ermittlungspannen gezogen werden.“
Frankfurter Rundschau, 23. Nov. 2011

junge welt: „Gehen Sie davon aus, daß die Inlandsgeheimdienste mehr in den Skandal verstrickt sind, als es die Berichterstattung nahelegt?“
Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung: „Die Verantwortlichen [in den Behörden] erwecken den Eindruck, sie seien völlig überrascht und selbst Opfer einer Serie von Pleiten, Pech und Pannen. Das widerlegen die Analysen von Monitor über FAZ und Tagesspiegel bis zur Frankfurter Rundschau und linken Zeitungen.“

junge welt, Interview, 3. Dez. 2001

SPIEGEL Online, 18. Nov. 2011

SPIEGEL Online, 18. Nov. 2011

Wie zieht man auch noch so berechtigte Kritik an herrschenden Systemen am leichtesten ins Lächerliche? Man nehme eine Gruppe von Leuten, die gemeinhin als Spinner betrachtet werden, und legt ihnen diese berechtigte Kritik einfach in den Mund – und schon ist der Kritik für das gemeine Publikum das Fundament entzogen.

Genau so tut es SPIEGEL Online in Bezug auf den berechtigten Verdacht, staatliche Stellen bzw. der so genannte Verfassungsschutz könnten in den Nazi-Terror, der der Zwickauer Terrorzelle angehängt wird, verstrickt sein. Da heißt es in dem aktuellen Beitrag „Die kruden Zwickau-Theorien der Netz-Nazis“ (siehe auch Screenshot), „in Internetforen tauschen Neonazis wilde Verschwörungstheorien aus… Der krude Tenor: Nicht Rechtsextreme seien für die Morde verantwortlich, die Taten gingen vielmehr auf eine Verschwörung und eine Inszenierung des Verfassungsschutzes zurück. Die drei Zwickauer Terroristen seien entweder V-Leute, die aus ‚dem Ruder gelaufen‘ seien und ‚aus dem Weg‘ mussten – oder der Verfassungsschutz habe die Terrorakte gleich direkt gesteuert. So solle ein neues NPD-Verbotsverfahren in Gang gebracht werden, mutmaßt etwa der Nutzer ‚Son of Hamdelli‘ in einem der Foren.“

hintergrund.de: „Fakt ist, dass das Zwickauer Trio nicht über ein Jahrzehnt ohne staatliche Unterstützer in der Illegalität leben konnte“
Allein dass derlei Aussagen von SPIEGEL Online mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“ belegt werden, zeigt die Absicht des Nachrichtenportals, Gedanken und Verdächtigungen dieser Art in die Ecke der Fantasterei und Spinnerei zu schieben.

Auch der in den Foren geäußerte Verdacht, die beiden Mitglieder der so genannten Zwickauer Terrorzelle – Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – könnten sich gar nicht selbst umgebracht haben, sondern von Geheimdiensten umgebracht worden sein, wird von SPON als „krude Gegentheorie“ bezeichnet und damit letztlich auch als Fantasterei abgekanzelt. Dabei ist der Verdacht absolut berechtigt, möge er auch von Rechtsextremen oder Nazis kommen. Immerhin berichtete SPON selber noch am vergangenen Samstag (12. Nov.), dass einem Ermittler zufolge die Spurenlage im Wohnmobil „nicht unbedingt auf einen gemeinsamen Suizid hin[deute]“. Und weiter: „Überhaupt: Warum sollten sich zwei mutmaßliche Schwerkriminelle nach einem geglückten Banküberfall umbringen? Aus Reue? Aus Angst vor der Polizei?“

Von derlei Skepsis scheint sich SPON aber jetzt zunehmend zu distanzieren. Offenbar ist SPIEGEL Online nicht (mehr) primär daran gelegen, Aufklärung zu leisten, die den Machtcliquen in einschneidender Form gefährlich werden könnte.

Ganz anders Sebastian Runge auf hintergrund.de in seinem Artikel „Immer tiefer verstrickt: Geheimdienste und Naziterror“. Darin stellt er die Frage:“Wurden die beiden Männer [Mundlos und Böhnhardt] vielleicht getötet, damit nicht herauskommt, wer hinter den Mordtaten steckt? Oder sollte eventuell eine neue, zweite Mordserie verhindert beziehungsweise beendet werden?“

Runges Fazit: „Welche Rolle auch immer Mitarbeiter der Geheimdienste bei den Aktivitäten der Neonazi-Terrorzelle namens ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘, kurz NSU, gespielt haben mögen, Fakt ist, dass das Zwickauer Trio nicht über ein Jahrzehnt ohne staatliche Unterstützer in der Illegalität leben konnte.“

hintergrund.de: „Auch beim Oktoberfest Attentat 1980 spielten Geheimdienste eine zwielichtige Rolle – doch polizeiliche und juristische Aufklärung fand zu keinem Zeitpunkt statt“
„Bundeskanzlerin Merkel sprach angesichts des rechten Terrors von einer ‚Schande für Deutschland'“, so Runge. „Um die Schande möglichst klein zu halten, wird man in den Führungsetagen bestrebt sein, den Fall – trotz zwangsläufig gegenteiliger Lippenbekenntnisse – nicht aufzuklären.“ Und Medien wie der SPIEGEL scheinen hier der Politik nicht in die Quere kommen zu wollen.

Runge zieht auch noch eine interessante Parallele zum Oktoberfest-Attentat 1980 in München, dem größten Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bei diesem Attentat, so Runge, „spielte der Geheimdienst ebenfalls eine zwielichtige Rolle. Es deutet Vieles darauf hin, dass der Täter damals nicht alleine handelte, sondern Teil der Gladio-Struktur war, einer paramilitärischen Geheimorganisation von NATO, CIA und des britischen MI6. Polizeiliche und juristische Aufklärung fand zu keinem Zeitpunkt statt. Wichtige Zeugen wurden bis heute nicht befragt, Beweise verschwanden und sämtliche Akten wurden inzwischen vernichtet. In den Verdacht der Unterstützung geriet vor allem die neonazistische Wehrsportgruppe Hoffmann, die dank ihres militaristischen Auftretens schnell im ganzen Land berühmt und berüchtigt wurde. Ihr damaliger Anführer, Karl-Heinz Hoffmann, wurde wegen Geldfälschung, gefährlicher Körperverletzung, Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Nötigung sowie mehreren Fällen von Freiheitsberaubung angeklagt. 1984 wurde er zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt, jedoch bereits 1989 wegen guter Führung und „günstiger Sozialprognose” vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen.

2004 erwarb Hoffmann mehrere Immobilien in Sachsen, darunter ein ehemaliges Rittergut mit Herrenhaus und Stallungen. Hoffmann gründete anschließend einen gemeinnützigen Verein und erhielt vom Land Sachsen von 2005 bis 2007 insgesamt 130.000 Euro als Fördergelder für die Erhaltung und Pflege eines Kulturdenkmals.

Interessanter Link zum Thema:

# Was ist „brauner Terror“ und wie kommte es dazu?, hintergrund.de, 14. Nov. 2011