Archiv für Januar 2015

Der SPIEGEL bepöbelt Alexis Tsipras als „Europas Albtraum“ und „Geisterfahrer“ – betreibt damit aber im Grunde nur „Geisterfahrer-Journalismus“, indem er sich wie ein Sprachrohr neoliberaler Politik geriert

Samstag, 31. Januar 2015

„US-Präsident Barack Obama zeigte in einem Interview mit CNN Verständnis für das Abweichen der neuen griechischen Regierung [unter Tsipras] vom strengen Sparkurs.“
„Tsipras erwartet kein Geld aus Moskau“, sueddeutsche.de, 2. Feb. 2015

„‚Der Geisterfahrer‘ lautet die Headline des aktuellen SPIEGEL auf einem Bild von Alexis Tsipras, dem attestiert wird, der ‚Albtraum Europas‘ zu sein. Den meisten dieser Syriza-feindlichen [deutschen Medien-]Publikationen gemein ist die völlige Verkennung der Ausgangslage. Griechenland ist durch Krise und Austeritätsdiktat ökonomisch zerstört. Arbeitslosigkeit, Lohneinbußen, der völlige Zusammenbruch von sozialen Sicherungssystemen – die griechische Bevölkerung, das konnte jeder sehen, der in den vergangenen Jahren das Land jenseits von Luxushotels bereiste, ist verzweifelt.“
Thomas Eipeldauer, „Das alte gegen das neue Europa“, hintergrund.de, 1. Feb. 2015

„[Durch den] Kauf von Staatsanleihen durch die EZB und die anderen Euro-Zentralbanken [im Gesamtwert von 1,1 Billionen Euro] wird… der eigentliche Grund der tiefen und andauernden ökonomischen Krise, die immer ungleicher werdende Verteilung, … verschärft. [Dabei gibt] es Alternativen zuhauf – auch solche, die die EZB in ihrer heutigen Gestalt und nach geltendem Recht durchführen könnte. Am einfachsten wäre die direkte Geldschöpfung durch die Überweisung von Geld auf das Konto von jedermann. Das ist ein Konzept, das zum Beispiel der frühere Präsident der US-Notenbank Ben Bernanke im Fall einer Deflation empfohlen, (aber nie angewendet hat). Es würde die effektive Nachfrage nach Verbrauchsgütern und damit deren Produktion sofort antreiben, damit einen Initialschub für die Konjunktur und nebenbei wieder leicht steigende Preise mit sich bringen.“
Lucas Zeise (Ex-Ressorleiter bei der Börsen-Zeitung und der Financial Times Deutschland), „Das Billionen-Euro-Ding“, hintergrund.de, 26. Jan. 2015

spiegel titelDa reibt man sich mal wieder die Augen: Der SPIEGEL beschimpft Griechenlands neuen Regierungschef Alexis Tsipras auf keiner geringeren Seite als seinem aktuellen Titelblatt als „Europas Albtraum“ und „Geisterfahrer“ (siehe Screenshot links) – und das auch noch mit der Begründung, dass Tsipras, so wörtlich, „alles in Frage stellt, was der Kanzlerin [Angela Merkel] heilig ist“. Als ob man zu „Europas Albtraum“ oder zu einem politischen „Geisterfahrer“ wird, wenn man Dinge in Frage stellt, die CDU-Chefin und Kanzlerin Merkel heilig sind…

Ohne Frage, CDU-Hardlinern wie Wolfganz Schäuble hätte man solche Wortbomben ja noch zugetraut, um das, was Merkel, „heilig“ ist, zu verteidigen. Aber ein Medium wie der SPIEGEL ist kein Sprachrohr der CDU. Offiziell zumindest nicht. Fakt ist: Es wäre nicht das erste mal, dass sich das Nachrichtenmagazin wie ein CDU-Sprachrohr aufführt!

So ist sich der SPIEGEL zu fast keiner Lobhudelei und Verklärung zu schade, wenn es um Angela Merkel geht (SPIEGELblog hat darauf bereits mehrfach aufmerksam gemacht, siehe hier). 2009 etwa schrieb das Nachrichtenmagazin allen Ernstes, Deutschland sei “gutes, altes Merkelland, das so schonend ist für die Nerven seiner Bewohner”.

Was für ein Mumpitz das ist, erkennt man allein schon daran, dass Arm und Reich nicht nur weltweit, sondern auch in diesem Land immer weiter auseinanderdriften. Und das soll, wie der SPIEGEL tönt, nervenschonend sein? Wohl kaum – jedenfalls nicht für die breite Masse der Bevölkerung… Im Übrigen ist es auch wissenschaftlich klar erwiesen, dass der Stress für die Bevölkerung gerade auch unter der Politik Angela Merkels sukzessive zugenommen hat (siehe z.B. hier) – Deutschland als „gutes, altes nervenschonendes Merkelland“ zu bezeichnen, wie es der SPIEGEL getan hat, kommt de facto einer Realitätsverweigerung bzw. dem Versuch, seine Leser für dumm zu verkaufen, gleich.

Wieso belegt der SPIEGEL nicht (auch) Angela Merkel oder die Verantwortlichen bei Weltbank und IWF, deren Politik Arm und Reich immer weiter auseinanderdriften lässt, mit Wortbomen wie „Europas Albtraum“ und „Geisterfahrer“?
Besonders hart hat es wohlgemerkt gerade auch zuletzt die griechische Bevölkerung getroffen. So hat sie in der großen Mehrzahl vom Diktat der Troika – also jenes Beamtengremiums, das aus Vertretern der EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) gebildet wurde – nicht nur nichts gehabt. Schlimmer noch: Ganz viele Griechen sind unter diesem Diktat noch mehr verarmt – u.a. mit der Folge, dass im Geburtsland der Demokratie „die Selbstmordrate dramatisch angestiegen ist“.

Und im Übrigen konnten mit dieser Politik auch die Staatsschulden Griechenlands nicht gesenkt werden – im Gegenteil, in den vergangenen Jahren haben sich diese noch mal erhöht.

Und wer ist verantwortlich dafür? Bzw. wer hat die Zügel in der Hand, um diese Entwicklung umzudrehen? Zuvorderst die Politik, die eben in Deutschland maßgeblich auch von Politentscheidern wie Angela Merkel und auf internationaler Ebene von Institutionen wie dem IWF oder der EZB gestaltet wird. Doch genau diese Instanzen gehen schnurstracks nur einen Weg, und zwar den, dass eine kleine Oberschicht immer mehr zugeschasst bekommt, während für die Masse immer weniger bleibt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage: Wieso belegt der SPIEGEL dann nicht Angela Merkel oder die Verantwortlichen bei Weltbank und IWF mit Schmähungen wie „Europas Albtraum“ und „Geisterfahrer“? Oder ist es etwa kein Albtraum oder keine politische Geisterfahrerei, wenn eine Politik z.B. zur Folge hat, dass, wie in Griechenland geschehen, die Selbstmordraten dramatisch ansteigen? Aus meiner Sicht schon.

Demnach könnte man das Bild geradzu auch umdrehen, sprich Tsipras fährt in die richtige Richtung und sieht sich mit Merkel, IWF, EZB & Co einem Strom von Geisterfahrern ausgesetzt.

Da drängt sich – wohlgemerkt zum wiederholten Male – der Verdacht auf, dass der SPIEGEL die neoliberale Politik der herrschenden Machtcliquen, die Arm und Reich immer weiter auseinanderdriften lässt, für den richtigen Weg hält. Eine andere Erklärung kann ich dafür jedenfalls nicht ausmachen.

Dazu kann man dann nur noch eines feststellen: Ein journalistisches Medium, das sich für einen Weg stark macht, der Arm und Reich immer weiter auseinandertreibt, ist sich seines elementaren Auftrages, so genannte vierte Macht im Staat zu sein und sich gegen Machtmissbrauch und Klientelpolitik und für lebenswerte und v.a. auch gerechte Gesellschaften stark zu machen, nicht mehr bewusst und betreibt somit im Grunde nichts anderes als „Geisterfahrer-Journalismus“.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass Tsipras‘ nicht zu kritisieren wäre. Doch wer sich, wie Tsipras, zumindest nach dem, was er an Äußerungen von sich gibt, gegen ein Politdiktat stemmt, dass das Gros der griechischen Bürger sukzessive ins Elend stürzt, verdient ganz klar eine sachliche Kritik, die ohne sensationsheischende dumpfe Beschimpfungen auskommt.

So hat Tsipras bereits den Pakt mit der Troika aufgekündigt. Und was lesen wir dazu in der aktuellen Printausgabe des SPIEGEL? Nun, vom Tenor her hält das Magazin Tsipras nicht nur kritisch vor, er wolle die „Troika loswerden“. Auch erfährt man aus der Printausgabe nichts darüber, dass dieses Anliegen in irgendeiner Weise unter Umständen eine sinnvolle Idee sein könnte.

Doch man höre und staune: Jetzt hält sogar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Troika für nicht mehr zeitgemäß und will sie durch eine „demokratisch besser legitimierte Struktur ersetzen“, die „auf den EU-Institutionen aufbaut“, wie man um 16:27 Uhr auf SPIEGEL Online lesen kann…